Beitrag von Dr. Gerd Kempermann

10. Berliner Theologisches Gespräch

„Der Import von embryonalen Stammzellen.
Eine Debatte kurz vor der Entscheidung des Deutschen Bundestages“

am 29.01.2002 im Konrad-Adenauer-Haus, Berlin

Beitrag von Dr. Gerd Kempermann,
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin

Vielen Dank, Herr Borchert, für die freundliche Einführung.

Es ist natürlich gar nicht so leicht, sich am Vorabend dieser Entscheidung im Bundestag jetzt noch etwas Neues auszudenken, was Sie in den letzten Wochen und Monaten nicht schon gehört haben. Ich möchte deswegen, weil ich ja hier auch als – auch wenn es ein Theologisches Gespräch – Vertreter der Naturwissenschaft stehe, mit Ihnen vielleicht noch mal daran erinnern, was eigentlich der Auslöser dieser ganzen Debatte war. Und dieser Auslöser der Debatte, der sogenannten Stammzelldebatte ist natürlich einer, der in der Forschung letztlich begründet war. Zunächst einmal sehen Sie hier aus einer amerikanischen Zeitung von Gary Trudeau einen Cartoon. Was man sieht ist, dass in einer finsteren Bar gegen Überreichung von 5000 Dollar ein Päckchen den Besitzer wechselt und der Mensch der an der Bartheke steht, der fragt: „Ist das Crack?“ (also die Vulgärform von Kokain). Und der Barkeeper sagt: „Nein, das sind Stammzellen“. Und ich glaube, dass dieser Cartoon eigentlich eines, was wir in der Diskussion in den letzten Monaten erlebt haben, sehr gut fasst, nämlich die irgendwie sich einnistende Vorstellung, dass es sich bei Stammzellen um ein Produkt handelt, um etwas, das teilweise vielleicht gerissene Geschäftsleute erfunden haben, und nun vielleicht vorrangig vermarkten wollen. Jedenfalls erinnert es an etwas, das erfunden wurde und das ist nun nicht der Fall. Stammzellen sind nichts, was erfunden wurde, sondern Stammzellen sind höchstens entdeckt worden und auch das eigentlich schon vor sehr langer Zeit.

Ich möchte hier kurz etwas erzählen aus meiner eigenen Arbeit. Das tue ich nicht, weil ich glaube, dass das der Schlüssel für die ganze Geschichte sei, sondern es ist erstens natürlich immer einfacher, über eigene Sachen zu erzählen, als über die Arbeiten von vielen anderen. Worauf es aber hinaus läuft, ist, dass es einen Aspekt Ihnen hoffentlich klar macht, und der ist eben auch eine der Kernaussagen, auf die ich dann letztlich hinaus will. Sie alle sind mit irgendwelchen Mythen aufgewachsen, derart, dass man nach dem Essen nicht schwimmen gehen darf, und wenn man in einem solchen Saal herumfragt, dann gibt es Werte zwischen dreißig Minuten und Unglückseeligen, die 3 Stunden nicht schwimmen durften. Es gibt wissenschaftlich natürlich keinen Grund, dass man nach dem Essen nicht schwimmen gehen darf. Und solche Mythen gibt es auch fürs Gehirn. Sie alle laufen wahrscheinlich mit dieser fixen Idee herum, dass wir nur 10 % unseres Gehirns benutzen, und auch das ist nicht wahr. Im Gegensatz zu diesem Mythos gibt es den anderen Mythos, und das ist der, dass wir alle unsere Nervenzellen nach der Geburt haben und danach bringt uns jedes Glas Bier und jeder Kopfball einer kritischen Nervenzellzahl näher, und wenn wir unter die rutschen, dann können wir Präsident gewesen sein oder nicht, wir enden dann in einer Demenz oder der Alzheimer’schen Erkrankung. Natürlich stimmt es, das Gehirn regeneriert so schlecht, und dass ist der Grund ja auch, warum wir nach neuen Therapieformen suchen, um dann vielleicht doch zu einer besseren Heilung zu kommen. Aber, es gibt neue Nervenzellen im Gehirn. Ich kann Ihnen jetzt nicht genau erklären, wie man das genau nachweist, aber Sie sehen hier in einem Ausschnitt des Gehirns, der Hippocampus heißt und für Lernvorgänge zuständig ist, neue Nervenzellen. Hier bei der Maus, aber bei einem Menschen kann man das auch so zeigen. Dass das möglich ist, dass es im Erwachsenenalter und beim Menschen gezeigt sogar bis ins hohe Lebensalter zur Neubildung von Nervenzellen kommen kann, liegt daran, dass in dieser Region hier Stammzellen, oder Vorläuferzellen, wie man vorsichtiger sagen sollte, existieren, die sich in einem Prozess, der einer Wiederholung der embryonalen Entwicklung entspricht, in Nervenzellen entwickeln.

Wir untersuchen Mäuse, die wir verwöhnen indem wir ihnen ein so genanntes „enriched environment“, eine reizreiche Lebensumgebung anbieten, und wenn wir das tun, und Tiere in einem großen Käfig mit vielen Spielsachen und sozialer Interaktion halten, anstatt in einem kleinen normalen Käfig, dann führt das dazu, dass wenn Sie dann diese Neurogenese untersuchen, dass Sie einen Zuwachse neuer Nervenzellen sehen. Und, dass es diesen Zuwachs geben kann, das spricht eben dafür, dass es auch im Erwachsenenalter in unserem Gehirn, das angeblich so starr, so fest verdrahtet ist, noch einen Vorgang geben kann, wenn auch regional spezifisch, in dem aus einem Prozess, der in Stammzellen seinen Ursprung nimmt, neue Nervenzellen gebildet werden.

Die Frage ist, ob das irgendetwas mit der Funktion des Gehirns zu tun hat. Ich sagte, dass diese Hirnregion Hippocampus heißt. Sie ist für viele Lernvorgänge zuständig, u. a. auch für räumliche Orientierung. Man hat hier Londoner Taxifahrer, von denen Sie annehmen können, dass sie sich gut orientieren müssen, in einer Kernspinthomografischen Untersuchung untersucht und hat gefunden, dass der Hippocampus bei Taxifahrern, die schon länger gearbeitet hatten, vergrößert war, und dass das sogar eine zeitliche Korrelation vorlag. Das beweist natürlich nicht, dass hier irgendwelche Stammzellen am Werk sind; das bedeutet überhaupt nicht, dass wir hiermit schon irgendetwas bewiesen hätten, aber es ist sehr suggestiv. Und ich glaube Sie werden mir folgen, dass ein solches Ergebnis einen zumindest motivieren kann, das weiter zu untersuchen und das, was wir von den Mäusen wissen, vielleicht auch eben beim Menschen zu sehen und verstehen zu lernen, was da im erwachsenen und im höheren Lebensalter noch passiert.

So, vielleicht sollten wir, auch wenn es der Tag vor der Bundestagsdebatte ist, und eigentlich alle Definitionen klar sein sollten, trotzdem noch einmal kurz darüber reden, was eine Stammzelle eigentlich ist. Und das ist eine Frage, die extrem schwierig zu beantworten ist. Wissenschaftlich gesehen ist eigentlich keine Definition wirklich akzeptiert oder akzeptierbar. Es gibt natürlich trotzdem diverse Definitionen. Es gibt auch eine, die sich allgemein durchgesetzt hat und auch als Arbeitsdefinition sehr gut funktioniert. Und die beruht einfach darauf, dass man zunächst anfängt, eine Stammzelle darüber zu definieren, dass sie eine sehr undifferenzierte Zelle ist. Dass sie nicht erkennen lässt, was aus ihr werden kann, und dass sie auch sonst keine Reifezeichen zeigt. Das wichtigste Kriterium einer Stammzelle ist, dass das sie sich selbst erneuern kann. D. h. wenn eine Stammzelle sich teilt, entstehen wieder zwei neue Stammzellen, und das theoretisch unbegrenzt. Nun würde das natürlich für einen Organismus überhaupt nichts bringen, wir hätten am Ende einen riesigen Berg Stammzellen, und das wäre natürlich nicht das Ziel. D. h. der wirkliche Gewinn entsteht erst dadurch, wenn statt dieser symmetrischen Zellteilung, wo ja wieder zwei neue Stammzellen entstehen, eine asymmetrische Zellteilung passiert und dann entsteht nämlich nur eine neue Stammzelle, und eine Zelle, die den Weg zur Differenzierung einschlägt. Und diese Differenzierung oder Reifung, die kann verschiedene Richtungen einnehmen, das hängt dann davon ab, an welcher Stelle diese Stammzelle in der Zeit oder im Raum entnommen wurde oder wo sie zu Hause ist. Und das nennt man eben die Potenz einer Stammzelle, je mehr aus ihr werden kann, desto potenter ist sie, desto größer ist ihr Potenzial. Und daran kristallisiert sich nun die ganze Diskussion. Hier kommen wir jetzt zum Kern der Debatte.

Die Potenz der Stammzellen wird klassischerweise (in Deutschland wohlgemerkt, in England und in Amerika wird diese Trennung überhaupt nicht mit diesen Worten vorgenommen, was häufig zu Verwirrungen führen kann, wenn Arbeiten aus USA in unseren ethischen Diskussionskontext übersetzt werden) mit den Begriffen totipotent, pluripotent und multipotent beschriebe. Diese Begriffe, die ich Ihnen jetzt erkläre, gelten also so nur für die deutsche Diskussion. Und da gibt es drei Stufen. Die erste Stufe ist die der ultimativen Stammzelle, das ist die befruchtete Eizelle. Die ist totipotent, weil aus ihr ein ganzer Organismus entstehen kann, und zwar wirklich ein ganzer, inklusive des mütterlichen Teils des Embryos, der Plazenta. D. h. sofern eine befruchtete Eizelle sich in der Gebärmutter einnistet, dann kommt es zu der Entwicklung eines gesamten, kompletten Menschen, und eben inklusive des versorgenden Mutterkuchens. Auch nach einigen Zellteilungen, den ersten zwei,bleibt diese Potenz noch erhalten. Dass ist bei Zwillingen der Fall, da teilt sich eben nach der ersten Zellteilung der Organismus noch einmal komplett und aus diesen Zellen können immer noch ganze Individuen hervorgehen. Einige Zellteilungen später ist das nicht mehr möglich. Dann geht, wenn man die Zelle nimmt und in die Gebärmutter implantiert oder sie sich implantiert, kein ganzes Individuum mehr daraus hervor, aber alle Körperorgane können noch gebildet werden. Dies sind die embryonalen Stammzellen, die also aus dem frühen Embryo stammen, dem Bläschenstadium. In der Wand dieses Bläschens. Diese Stammzellen können alle Körperorgane bilden, aber eben wenn man sie implantiert keinen ganzen Organismus mehr und wahrscheinlich vor allem eben auch keine Plazenta. Um diese Zellen geht es nun, die wollen wir haben, weil sie pluripotent sind, weil sie der Joker der Therapie sein können, weil sie „alles“ machen könnten.

Nach einer nicht bekannten Anzahl von Zwischenstufen gibt es dann im Erwachsenenalter noch die multipotenten Stammzellen, die gewebespezifischen Stammzellen, die adulten Stammzellen, die somatischen Stammzellen: das sind alles äquivalente Begriffe, die Ihnen in der Diskussion begegnet sind. Und die können eben nur das machen, was in dem einen Organ gefragt wird, also Hautstammzellen machen Haut, Leberstammzellen machen Leber usw., und wie ich Ihnen eben in meinen ersten Dias gezeigt habe: Hirnstammzellen können eben Nervenzellen und andere Hirnzellen machen. Und das ist jetzt eine ganz ganz wichtige Unterscheidung, die wir hier sehen, denn auf der basiert viel von der Diskussion, die sie mitbekommen haben. Ich werde Ihnen aber im Folgenden zeigen, dass diese Einteilung zumindest was diesen letzten Teil angeht, wahrscheinlich artifiziell ist, und das wir einen Teil der Diskussion zumindest deswegen um des Kaisers Bart führen, weil es eigentlich letztlich um ganz andere Probleme geht, wissenschaftlich gesprochen.

Kommen wir mal zu den Therapieformen, die da diskutiert werden. Hier ist die Blastozyste, das ist das Bläschenstadium, und in dessen Wand liegen die embryonalen Stammzellen. Die Idee ist nun für Therapieformen, die auf diesen embryonalen Stammzellen basieren, diese Stammzellen in der Zellkultur zu vermehren, ihnen beizubringen, in welche Richtung sie sich zu differenzieren haben und daraus dann Gewebe züchten zu können, und dieses Gewebe als Ausgangsmaterial für Transplantationen einsetzen zu können. Das ist auch gut und schön, es gibt auch viele Hinweise, das so etwas in der Tat funktionieren kann. Es gibt dabei allerdings einige Probleme. Das eine und nicht unbeträchtlichste Problem ist das, dass wir wenn wir diese Zellen transplantieren würden, wir das ähnliche Problem hätten wie bei einer normalen Nieren- oder Lebertransplantation, nämlich dass wir darauf achten müssen, dass sie immunologisch zusammenpassen, damit es nicht zu Abstoßungsreaktionen kommt. Denn dieser Embryo aus dem diese Zellen gewonnen wurden, ist ja nicht identisch mit dem Patienten, der die Zellen bekommen soll. Um das nun zu umgehen, hat man die Idee gehabt, dass man irgendwie am liebsten an embryonale Stammzellen dieses Patienten selbst herankäme. Nun geht das natürlich nicht, weil er ja schon eben nicht mehr Embryo ist. Und, man hat deswegen die Idee gehabt, man könne ja eine Eizelle nehmen, (wobei natürlich auch nicht trivial ist, woher man eine Eizelle herbekommt, aber sicherlich eher lösbar als andere Punkte in dieser Geschichte) und man entfernt dieser Eizelle den Kern. Man nimmt dann auch irgendeine beliebige Körperzelle dieses Menschen, denn alle unsere Körperzellen sind bezüglich der genomischen Information identisch. In jeder Ihrer Zellen steckt Ihre komplette Information und wir nehmen deswegen einen beliebigen Zellkern des Körpers, setzen ihn in unsere Eizelle und dann passiert erstmal gar nichts, weil wir mit viel Gewalt, mit Elektroschocks und Chemie dafür sorgen müssen, dass die Zelle in die Zellteilung eintritt.

Sie haben das verfolgt: der angebliche erste geklonte menschliche Embryo ist eigentlich gar kein „Erfolgsbericht“, denn man kann eigentlich nur sehen, daß es überhaupt nicht funktioniert hat. Es hat sich eben nichts geteilt, denn diese Zellen teilen sich nicht, wenn sie es nicht wirklich wollen. Man kann sie wie gesagt manchmal dazu zwingen, im Fall des Schafes Dolly haben von 200 Kerntransfers hinterher nur 30 Zellen begonnen, sich zu teilen.

Gut - aber wenn das mal funktioniert und vielleicht kann man hier ja auch technisch noch einiges lösen, dann würde man eben diese Blastozyste erreichen. Wenn man diese Blastozyste nun nähme und in eine Gebärmutter einpflanzte, dann könnte sich daraus in der Tat zumindest theoretisch ein Organismus entwickeln, der genetisch fast komplett diesem Menschen entspricht. Nicht hundertprozentig, weil es in der Eizelle auch noch etwas Genom gibt, das nicht im Zellkern ist, aber fast. Das wäre dann das sogenannte „reproduktive Klonen“. Wenn man das aber nicht tut, sondern diese Zellen eben für andere Zwecke verwendet, nennt man das „therapeutische Klonen“. Damit könnte man eben erreichen, dass diese Zellen sich dann nicht abstoßen, weil der Patient eben seine eigenen embryonalen Stammzellen erhält.

Ich werde Ihnen aber gleich zeigen, dass dies vielleicht gar nicht nötig ist. Bisher ist nicht gezeigt worden, dass es wirklich funktioniert. Es gibt im Tierexperiment Hinweise, dass man so etwas machen kann, aber auch auf die große Ankündigung in England, dass man das zum Mittelpunkt der Therapiestudien in Großbritannien machen würde, ist eigentlich bisher wissenschaftlich zumindest, nicht viel gefolgt.

Die Alternative ist natürlich die, dass man am liebste dem Patienten selbst Stammzellen entnähme und aus diesen Stammzellen das herstellt, was man eben gerne hätte. Da ist das Problem, dass adulte Stammzellen, die aus einem erwachsenen Organismus gewonnen werden, sich nicht so teilen wie die embryonalen Stammzellen, und ihre Differenzierungswege auch viel schwieriger zu erfassen sind. Und die Konsequenz ist eben, dass das der Weg über die embryonalen Stammzellen wahrscheinlich irgendwie schneller zu erreichen ist, aber eigentlich sind sich alle wohl ziemlich einig, dass der Einsatz adulter Stammzellen an sich letztlich der bessere Weg wäre, der weniger Risiken birgt.

Jetzt hatte Ihnen in dem Dia eben gezeigt, dass es eine Gleichsetzung gab zwischen embryonal und pluripotent und zwischen adult und multipotent, und das hatte ich ihnen auch schon angedeutet, dass das gar nicht so unproblematisch ist. Es gibt eine ganze Menge wissenschaftliche Probleme in diesem Kontext und das erste und nicht unwesentlichste ist, dass dieses ganze therapeutische Potential von Stammzellen bis heute weitgehend hypothetisch ist. Es gibt natürlich schon einzelne Anwendungen beiPatienten, Sie haben sicherlich von diesen Versuchen mit Herzinfarktpatienten gehört, aber das ist eigentlich nur ein Versuch. Es ist kein wissenschaftliches Vorgehen, das einfach mal auszuprobieren. Für eine breite Anwendung fehlen uns einfach für viele Erkrankungen Tiermodelle, an denen man solche Vorstudien machen könnte. Tiere kriegen keinen Morbus Alzheimer, zumindest nicht wie wir ihn bekommen können, es gibt die Multiple Sklerose nicht in der Form bei Mäusen und Ratten, wie sie beim Menschen auftritt. D. h. also, es ist gar nicht so leicht, zu zeigen, dass man mit diesen Stammzellen wirklich etwas erreichen kann. Man kann ja nicht den Menschenversuch als Basis für all diese Sachen heranführen.

Das andere hatte ich Ihnen auch schon angedeutet: Es ist nicht bekannt, welche Identität Stammzellen wirklich haben, und wir reden manchmal von sehr verschiedenen Zellen, wenn wir Stammzellen sagen.

Und natürlich ist auch nicht klar, welche Risiken diese Therapien haben. Das ist natürlich in einer gewissen Weise trivial: wenn wir nicht wissen, was wir wirklich damit anfangen können, können wir natürlich auch nicht wissen, welche Nebenwirkungen das Ganze haben könnte. Trotzdem ist das natürlich ein Punkt auf den man immer hinweisen muss, weil man das nicht voneinander trennen kann. Bei jede Untersuchung müssen die positive und die negative Seite in einem berücksichtigt werden, auch dafür braucht man eben eigentlich gute Tiermodelle, um so etwas untersuchen zu können, ethisch vertretbar untersuchen zu können.

Die Frage ist dann schließlich auch, wie potent muss denn eine Stammzelle überhaupt sein, damit sie therapeutisch wertvolle Ergebnisse liefert? Ist es wirklich gut, wenn sie soviel kann wie eine embryonale Stammzelle oder wäre es vielleicht besser, wenn sie schon ein bisschen gelernt hat, in welche Richtung sie zu gehen hat und dann vielleicht das auch ein bisschen geradliniger und besser macht? Das ist noch unklar. Und eines der Ziele der embryonalen Stammzellforschung, die sich ja zu Wort gemeldet haben, ist gerade dass, solche vergleichende Forschung zu machen. Und ein letzter Punkt ist auch noch sehr wichtig: Es gibt viele Erkrankungen, die kann mit Transplantation gar nicht behandeln, zum Beispiel beim Morbus Alzheimer. Da ist nicht klar, was sie da transplantieren wollen, das ganze Gehirn ist betroffen, es sind viele verschiedene Zelltypen betroffen, und ich glaube, bis zu einer Ganzhirntransplantation werden wir in absehbarer Zeit auch bei größten Fortschritten in der Stammzelltherapie nicht kommen.

Es gibt aber interessante Ergebnisse, die nun in der Tat diese Gleichsetzung: pluripotent=embryonal und multipotent=adult sehr in Frage stellen. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Es interessiert unter medizinischen Gesichtspunkten überhaupt nicht, ob die Zelle aus einem Embryo stammt, wir wollen nur eine pluripotente Zelle haben. Der Embryo ist das Problem, das wir damit hätten, weil er der angeblich einzige Lieferant für pluripotente Zellen ist. Und um so besser wäre es, wenn wir pluripotente Zellen irgendwoanders herbekämen.

Nun, zunächst mal gibt es eine Aufweichung des Begriffs der Gewebespezifität. Da sind sehr umstrittene Erforschungsergebnisse, und es ist auch nicht ganz klar, was da letztlich herauskommen wird. Aber ein wichtiger Punkt steckt in ihnen und den will ich Ihnen kurz versuchen klarzumachen. Zunächst einmal hat man gezeigt, dass auch aus Blutstammzellen plötzlich Leberzellen werden konnten, also dass da die Grenze des Gewebes überschritten wurde: Leber zu Blut, Blut zu Muskel, Muskel zu Blut, Blut zu Gehirn, Gehirn zu Blut. Also war plötzlich alles möglich, sogar Stammzellen, die eigentlich gar keine Stammzellen mehr sind, weil sie gar nicht mehr diese Potenz zeigen, die konnten sich noch mal wie Mulipotente verhalten. D. h., dass eigentlich die Grenze der Gewebespezifität hier nicht haltbar war. Man hat das interpretiert als eine Transdifferenzierung oder Redifferenzierung. Das kann man sich vielleicht vorstellen wie eine Umschulung, und Umschulungen, das wissen Sie auch, haben zwar Erfolg, aber sie sind in der Regel teuer und mühsam, und es ist auchnicht gesagt, dass es funktioniert. Aber prinzipiell ist das schon möglich, und so hat man sich das hier vielleicht auch vorzustellen.

Es gibt aber noch eine Alternativhypothese, und die ist eigentlich noch interessanter. Und zwar haben Arbeiten, z. B. wie die von Krause letztes Jahr gezeigt, dass man aus dem Knochenmark eine sehr seltene Stammzelle der Maus isolieren kann, die zumindest mehr als multipotent. Es waren hier vier verschiedene Gewebearten, also das würde man dann vielleicht noch nicht pluripotent nennen, aber immerhin schon mal sehr viel mehr als dieser Zelle eigentlich zustand. Die Arbeitsgruppe von Catherine Verfaillie von der University of Minnesota hat letzte Woche leider nur über eine Pressemitteilung, und insofern jetzt noch nicht wissenschaftlich überprüfbar, ihre Arbeiten über die sogenannte multipotenten adulten Vorläuferzellen vorgestellt. Und hier sehen Sie eben diese Differenz, die nennen das multipotent, wir würden die pluripotent nennen nach unseren Begriffen in Deutschland. Das sind Zellen, die man angeblich auch bei Menschen aus dem Knochenmark insolieren kann und die pluripotente Eigenschaften haben. Ob sich das nun wirklich bewahrheitet, ob die wirklich dann so pluripotent wie eine embryonale Stammzelle sein werden, das kann ich noch nicht sagen, das kann wahrscheinlich niemand sage. Alle warten darauf, dass das wirklich veröffentlicht wird. Aber auch diese Ergebnisse deuten natürlich in die Richtung, dass es Zellen gibt, deren Potential über das hinausgeht, was man ihnen zunächst zugetraut hat. Aus dem Gehirn gibt es solche Ergenisse auch, das ist die Arbeit von Perry Bartlett die in „Nature“ im letzten Jahr erschienen ist. Auch dort hat man eine Zelle, die man wirklich als pluripotent bezeichnen muss, aus dem Gehirn der Maus isoliert und dann den Nachweis geführt der Klonalität und anderer Charakteristika, die eine Stammzelle wissenschaftlich gesehen definieren. D. h. es scheint viel dafür zu sprechen, dass es, wenn auch sehr selten, Pluripotenz nicht nur im Embryo oder in embryonalen Stammzellen gibt. Und die große Frage, die wir natürlich im Augenblick alle haben, ist: Kann man das ausnutzen? Kann man damit dieses ethische Dilemma vielleicht eines Tages ganz umgehen?

Es gibt auch noch ein paar andere Hinweise, die auch ganz interessant sind, wenn man eben jetzt mal sagt, vielleicht ist Pluripotenz ja gar nicht das Maß aller Dinge. Hier diese Arbeit z. B., die gezeigt hat, dass es Stammzellen praktisch im gesamten Gehirn gibt, zwar sehr selten, aber es gibt sie, und es gibt sie eben keineswegs nur in dem Hippocampus als der Region, die ich Ihnen eben vorgestellt habe, in der aus diesen Stammzellen neue Nervenzellen werden. Es ist völlig unbekannt, was diese Zellen in anderen Hirnregionen eigentlich machen. Warum die da sind, und vor allen Dingen auch, warum sie nichts tun oder scheinbar nichts tun oder zumindest, warum sie nicht von sich aus, wenn es nun zum Schlaganfall, zur Epilepsie oder was auch immer kommt, eine Regeneration einleiten. Man kann aber natürlich sogar noch weiter gehen und fragen: Was wäre denn, wenn sie nicht da wären? Wäre dann vielleicht all diese Erkrankungen noch viel schlimmer als sie sowieso schon sind? Aber das führt, glaube ich, jetzt ein bisschen zu weit.

Aber immerhin: eine Arbeitsgruppe aus Harvard hat gezeigt, dass es bei allerdings extrem spezifischer und sehr lokal begrenzter Schädigung auch in der Hirnrinde und wahrscheinlich aus eben diesen Stammzellen zu einer Neubildung von Nervenzellen kommen kann. Das waren nun so spezielle Bedingungen, dass man daraus nicht direkt ableiten kann: Das ist der Weg, so machen wir es jetzt. Sondern es ist nur ein „proof of principle“, und man weiß jetzt, dass so etwas grundsätzlich funktioniert. Nur fragen wir uns hier natürlich, was verhindert diese Regeneration bei größeren Schäden? Auch das ist ein Bereich von Stammzellforschung, der eigentlich mit dem, der die öffentliche Diskussion im Augenblick beherrscht, wenig zu tun hat. Und noch ein letztes Beispiel, das sehr spannend ist, eine wilde Hypothese, die zwar viel für sich hat, aber fern von „bewiesen“ ist. Die Idee ist, dass es sich bei der Depression, also der klinischen, der großen Depression, um eine Erkrankung handelt, deren Symptome wenigstens zum Teil dadurch erklärt werden können, dass es zu einem Verlust dieser Plastizität, wie man das nennt, im Hippocampus, von dem ich eben sprach, kommt. Dies erklärte nicht die ganze Depression, aber es erklärte vielleicht einige der Symptome. Die Depression war ja immer so eine rätselhafte Erkrankung, weil sie einerseits als klassische Geisteskrankheit galt, weil sie kein körperliches, biologisches Korrelat hatte. Man hat nie etwas im Gehirn von Depressiven gefunden, was irgendwie auf die Erkrankung hinwies, ganz anders als bei Alzheimer, wo es Plaques und „Tangles“ gibt, und diese zu erfassen, eine Blickdiagnose für den Pathologen ist. Aber gleichzeitig ist die Depression eine Krankheit, die hervorragend auf eine biologische Manipulation, sprich Medikamente, anspricht, was ja irgendwie nicht ganz zusammengehen konnte. Dies hier wäre nun eine erste These, die eben auch prüfbar ist, wo man sagen kann, hier ist wirklich ein zellulärer Mechanismus, den man untersuchen kann und der vielleicht zumindest teilweise eine Rolle spielt. Auch das nur als Beispiel dafür, dass es Anwendungen von Stammzellbiologie für die Medizin gibt, die eben nichts mit Transplantation zu tun haben. Und, um die Stammzellen bei Depressionen noch zu Ende zu führen, alle bekannten Antidepressiva führen zu einer Steigerung von unserer Nervenzellenneubildung, was nicht heißt, dass ich Sie bitten möchte, nach Hause zu gehen und Antidepressiva zu schlucken, es ist alles erst in der Maus untersucht, aber immerhin.

Zusammenfassend bedeutet das, dass man eigentlich nicht sagen kann, dass sich die Auswirkungen der Stammzellbiologie auf die Medizin darin erschöpfen, dass wir aus irgendwelchen Zellen irgendwas machen und das dann transplantieren. Da ist natürlich ein nahe liegendes Nahziel. Dies ist in der Tat ein ehrenwerter und wichtiger Ansatz, und ich werde auch gewiss nichts dagegen sagen, dass man das will. Ich möchte aber den Punkt machen, dass das eben nur ein Teil der gesamten Geschichte ist. Und in der großen ethischen Debatte so wichtig sie ist – oder war – haben wir uns eben von dieser ursprünglichen forschungspolitischen Frage etwas gelöst. Und ich finde es wieder an der Zeit, daran zu erinnern, dass es diese anderen Dimensionen auch noch gibt. Dass viele Erwartungen, die wir vielleicht an die Stammzellforschung haben können, eben vielleicht ganz andere sind, als jetzt gerade durch die ethische Debatte mit ihrer Fokussierung auf die embryonalen Stammzellen stattfindet, deutlich wird.

Es gibt also folgende Varianten, was man mit der Stammzellbiologie in der Medizin anfangen könnte. Z. B. könnte man Zellen, die aus embryonalen Stammzellen gewonnen sind, zum Zellersatz transplantieren. Man kann das theoretisch genauso, wenn es denn gelingt, die Zellen gut zu vermehren, auch aus den Zellen des erwachsenen Organismus machen. Man kann möglicherweise ausnutzen, dass sich die adulten Stammzellen, die somatischen Stammzellen, umerziehen lassen, oder eben diese pluripotenten adulten Stammzellen, wenn sie denn wirklich in größeren Mengen isolierbar und vermehrbar sind, auszunutzen.

Man kann sich aber auch Therapiestrategien überlegen, die darauf abzielen, die Stammzellen vor Ort auszunutzen, also sie gar nicht erst herauszunehmen, sondern sie gleich vor Ort zu stimulieren und auf dieser Basis vielleicht etwas zu erreichen. Das kann man natürlich als kurativen Ansatz verstehen, man kann es aber auch als einen präventiven Ansatz sehen. Und zuletzt der wichtige Punkt, dass wenn Stammzellen eine Funktion haben, und das haben sie eben auch im erwachsenen Organismus, dann hat das immer auch eine Schattenseite. D. h. wo eine positive Funktion ist, kann man immer auch krank werden, d. h. Stammzellen spielen eben auch eine Rolle für die Erkrankungen des Menschen. Das gilt eben wahrscheinlich auch für das Gehirn, bei dem man die Stammzellen eben bislang nicht gekannt hat, und einem das bei anderen Organen vielleicht näherliegend erschienen ist.

Wenn wir das zum Abschluss zusammenfassen, nehmen Sie bitte mit, dass Stammzellen keine Ware sind, sondern der Bestandteil eines fundamentalen biologischen Wenn wir keine Stammzellen hätten, könnten wir nicht leben. Die Annahmen, es gälte, embryonal ist pluripotent und pluripotent ist therapeutisch nutzbar, sind fragwürdig. So einfach wird das nicht sein. Es stimmt natürlich zunächst einmal, aber es ist keine Ausschließlichkeit in dieser Gleichsetzung zu sehen. Weiterhin möchte ich Sie bitten mitzunehmen von meinem Vortrag, dass die Stammzellbiologie die Medizin also weit jenseits der Transplantationsstrategien verändern wird und auch weitaus komplexer ist, als man vielleicht annehmen mag. Es ist eben nicht trivial, mal eben ein Organ zu machen und dass dann auch noch einzubauen. Da stecken sehr sehr viele, sehr sehr fundamentale biologische Fragen hinter, und mit dem muss man sich auseinandersetzen. D. h. Stammzelltherapien sind in überhaupt keinem Fall Nahziele, auch wenn es bereits klinische Versuche gibt. Aber bedenken Sie, wie lange es gedauert hat nach den ersten Herztransplantationen bis Herztransplantationen eine Routineanwendung in großen Kliniken geworden sind. Und ganz ähnlich wird es hier auch sein. Es wird Rückschläge geben, und es wird auch so sein, dass Enttäuschungen vorprogrammiert sind. Wir haben in der Wissenschaft immer wieder Wellen gehabt. Es gab die große Welle der Wachstumsfaktoren, die für alles herhalten konnten und große therapeutische Hoffnungen weckten, und dann angeblich so bitter enttäuschten, und genauso war es mit der Gentherapie, die so große Hoffnungen hervorrief und dann angeblich so enttäuscht hat. Auch die haben alle nicht enttäuscht, wenn man sich mit der Sache beschäftigt. Es dauert nur alles. Es ist sehr sehr komplex, es dauert, und so wird es bei den Stammzellen auch sein.

Und der letzte Punkt ist eben: wir können noch so gute und so wichtige und so entscheidende ethische Debatten führen, das kann nicht letztlich die Forschungspolitik ersetzen. D. h. wenn wir morgen aus ethischen Gründen eine gute Entscheidung getroffen haben, dann muss da immer noch nachfolgen, dass man das auch forschungspolitisch umsetzt, damit die Hoffnungen sich auch wirklich erfüllen, sei es in der einen oder in der anderen Richtung, wie immer auch die Entscheidung sein mag.