Beitrag von Dr. Martin Kruse: „Der Mauerbau und die Christen in Deutschland – eine Bestandsaufnahme“

„Der Mauerbau und die Christen in Deutschland – eine Bestandsaufnahme“

am 09.10.01 in der Vertretung des Saarlandes beim Bund

Altbischof Dr. Martin Kruse:

Meine Damen und Herren,

es ist ja schade, dass ich nicht die kirchliche Obrigkeit von Herrn Nooke gewesen bin und es erst nach dem Fall der Mauer geworden bin, denn viele seiner Fragen gehen natürlich an die Kirchenleitung unter den Bedingungen der DDR.

Ich will zuerst einen allgemeinen Gedanken äußern: Ich glaube, die Evangelische Kirche lebt von der Einmischung und der Kraft von Gruppen und Einzelnen, die ungeniert Fragen stellen und das Evangelium leben und zum Zuge bringen wollen. Aber gleichzeitig muss man sagen, die Aufgabe einer Kirchenleitung in einer Diktatur, einer völlig gleichgeschalteten Gesellschaft, ist natürlich etwas anderes als das Engagement von Gruppen und von einzelnen – oder ist davon zu unterscheiden – beide aber stehen in einem notwendigen Lebenszusammenhang miteinander.

Ich verdeutliche das an einer Westberliner Erfahrung. Als Anfang der achtziger Jahre die Hausbesetzungen fast eine Bürgerkriegsszene in Westberlin schufen, waren Christen in allen Lagern vertreten. Auch in den besetzten Häusern gab es Pastoren bis hin zu Professoren. Helmut Gollwitzer war auch mit einer Matratze dahin unterwegs. Und er wollte natürlich, dass sein Bischof, also ich, auch in die besetzten Häuser ging. Er meinte, hier wird auf ein Unrecht eines Wohnungsleerstandes aufmerksam gemacht, den man als Christenmensch nicht dulden kann. Ich habe gesagt, dass ich da nicht hingehen könne. Eine Kirchenleitung habe in dieser Situation eine andere Aufgabe, nämlich zwischen den Fronten zu vermitteln. Die Pfarrer, die in den Häusern waren, konnten im Grunde genommen gar nicht den Frieden vermitteln. Das war dann doch sehr viel direkter möglich und nötig durch die kirchlichen Strukturen, für die eine Kirchenleitung steht.

Ich möchte darauf hinaus: ich verstehe die Ungeduld, die in der Kirche in bestimmten Krisensituationen durch aktive Gruppen geäußert wird, dass die Kirchenleitung zu leisetreterisch und nicht mutig genug agiere. Ob das wirklich zutrifft, oder ob hier nicht ein untergründiger Zusammenhang unterschiedlicher Aufgabenstellungen vorliegt, das müsste man genauer erheben. Kirchenleitung und Gruppen waren unter den Bedingungen der DDR aufeinander angewiesen.

Nun will ich auf meine Weise ein paar Gesichtspunkte hinzutragen.

Eine Evangelische Kirche existiert notwendigerweise anders als die katholische Kirche. Als ich 1977 hier als Bischof eingeführt wurde, da war Kardinal Bengsch auf Kur. Er besuchte mich dann in meiner kleinen Klause - wir hatten noch keine Wohnung als Familie - und sagte mir: „Wissen Sie, der Kommunismus hält 70 Jahre, länger nicht. Und bis dahin müssen wir die Türen möglichst dicht halten. Das können Sie nicht, aber wir machen das so.“

Es ist ein Unterschied, nicht nur ein struktureller, sondern ein wesensmäßiger Unterschied im Verhalten. Eine Evangelische Kirche ist schwieriger zu regieren und zu bändigen - auch von einer Diktatur. Wie oft hat mir der Staatssekretär für Kirchenfragen gesagt: „Wenn ich nur mit der katholischen Kirche zu tun hätte, dann hätten wir es als DDR-Regierung leicht. Aber bei der Evangelischen Kirche weiß man nie, was morgen passiert“.

1958 Chruschtschow-Ultimatum: Noch einmal der Versuch, Westberlin herauszulösen mit der Forderung: Abzug der Westmächte aus Westberlin, Etablierung Berlins als eine neutrale, freie Stadt. Im Mai 1959 kommt es dann zur Außenministerkonferenz in Genf, wo das Unternehmen scheitert und damit die Vorstellung einer Neutralisierung ganz Deutschlands, einer Dominanz des östlichen Systems über das westliche in Berlin, scheiterte. Die Sorge war dann in der Kirche: Was wird jetzt geschehen? In dieser Situation hat die Evangelische Kirchenleitung etwas getan, was selten vorkommt, sie hat nämlich in einer Art prophetischer Vorausschau eine Notverordnung, und zwar nach öffentlicher Diskussion in der Synode, erlassen.

Diese besagte: Wenn es dahin kommen sollte, dass die Synodalen der Berlin-Brandenbur-gischen Kirche nicht mehr an einem Ort zusammen kommen können, also wenn die Abtrennung zwischen Westberlin und Ostberlin (und vermutet war auch eine Abtrennung zwischen Ostberlin und Brandenburg) geschehen wird, dann können Teilsynoden gebildet werden. Diese Notverordnung ist einstimmig von der Synode angenommen worden. Ich lese Ihnen jetzt einmal vor, wie die BZ diesen Synodenbeschluss kommentiert hat. Der Tagesspiegel hat sich etwas zurückhaltender geäußert, aber die Berliner Zeitungen waren sich darin einig, nämlich in folgendem: „Niemand wird der Synode den Vorwurf machen, dass sie in der Sorge um die Einheit der Kirche weitere Erschwernisse kalkuliert. Ganz im Gegenteil. Die Vorsorge darf allerdings nicht so weit gehen, dass die Kirche in ihren Überlegungen die fragwürdigsten politischen Prognosen einbezieht, dass sie Ereignisse als möglich unterstellt, die nicht eintreten dürfen und nach Lage der Dinge auch nicht eintreten werden.“

Die Evangelische Kirche hat sich erstaunlich nüchtern auf eine harte Trennung eingestellt, wann Sie so wollen: sie hat den Mauerbau beschlussmäßig vorweg genommen. Und Bischof Schönherr sagte vor einiger Zeit, es sei eines der wenigen Beispiele, dass auch Kirchenleitungen prophetisch handeln können. Das kommt selten genug vor. Mit dieser Notverordnung hatten wir aber auch eine Anweisung, wie wir uns zu verhalten hatten, wenn die Mauer wieder fiel, wenn die Trennung überwunden würde. Dann musste nämlich innerhalb eines Vierteljahres der dienstälteste Präses einer der Teilsynoden die Gesamtsynode einberufen, um die Einheit der Kirche wieder herzustellen.

Im Jahre 1989 waren die Verhältnisse anders, als man es 1959 oder 1961 voraussehen konnte. Aber, es ist nach dieser Weisung verfahren und organisatorisch die Einheit wieder hergestellt worden. Die Evangelische Kirche hat unter der Teilung ungeheuer gelitten. Bischof Scharf wurde ausgebürgert. Er konnte nach seiner Wahl zum Bischof von Berlin-Brandenburg nur noch in Westberlin tätig sein. Es wurde in der Ostregion ein Bischofsverweser eingesetzt, ein unschönes Wort, man nannte ihn schließlich Bischofsverwalter. Und unter großen Schmerzen und Geburtswehen ist dann im Jahre 1972 ein eigenes Bischofsamt in der Ostregion der Berlin-Brandenburgischen Kirche zustande gekommen.

Nun kann man sagen, die evangelische Kirche habe sich dem politischen Druck gebeugt. Denn die katholische Kirche hat kurz vor dem Bau der Mauer den Bischof nach Ostberlin genommen und so die Einheit des Bistums jedenfalls im Bischof erhalten. De facto gab es zwei Ordinariate, und die unterschiedlichen Entwicklungen sind im Ost- und Westteil der Diözese natürlich in ganz ähnlicher Weise verlaufen. Die Gestalt von Bischof Scharf, meines unmittelbaren Vorgängers, war so in der Berlin-Brandenburger Kirche und in der Tradition der Bekennenden Kirche verwurzelt, dass die Regierung der DDR und die Partei in seiner Person eine Bedrohung sah; in ihm einfach wurde die Einheit der Kirche symbolisiert. Es war also für alle evangelischen Christen schmerzlich, dass ihr Bischof daran gehindert wurde, für das Ganze der Kirche tätig zu sein. Als ich dann, 1976 gewählt, 1977 antrat, habe ich keinerlei Schwierigkeiten gehabt, in dem anderen Teil unserer Kirche zu reisen, konnte aber nicht in jeder Weise tätig werden, z. B. in Ostberlin predigen, da wäre ich wohl am Grenzübergang gehindert worden. Die eigentlichen kirchenpolitischen Entscheidungen waren vor dem Jahr 1977 gefallen. Durch die neue Ostpolitik waren die politischen Rahmenbedingungen verändert. Es war der DDR, der Partei, dem Zentralkomitee deutlich geworden, dass die Kirchenpolitik mit dem Ziel, die Kirche zu beseitigen, gescheitert war. Der Staatssekretär Gysi hat zu mir einmal gesagt: „Ja, in derEschatologie unterscheiden wir uns, Christentum und Kommunismus. Wir glauben an die erlöste Gesellschaft und Sie haben ihre eschatologischen Vorstellungen als Christen. Das wollen wir einmal dem lieben Gott überlassen, wer Recht hat.“

In diesem Bonmot steckte das Eingeständnis oder die Einsicht, dass die Kirchen, der Glaube, nicht mit Gewalt auszulöschen sei; er wird auch nicht einfach absterben, so wie es nach der reinen Lehre des Kommunismus geschehen sollte, sondern wir müssen mit ihm leben.

So ist es unter diesen Bedingungen 1978 zu dem vielbeachteten Treffen des Vorstandes des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR unter Leitung von Bischof Schönherr mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker gekommen; da wurde so etwas wie ein Kirchenvertrag abgeschlossen; der Kirche wurden eine ganze Reihe von Zugeständnissen gemacht, die übrigens die katholische Kirche sofort mit übernommen hat.

Die Trennung zwischen EKD und die Verselbstständigung des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR Ende der 60er Jahre war ein ungeheuer schmerzliches Kapitel. Und man kann die Meinung vertreten, der wesentliche Faktor sei der Druck des Staates gewesen, der gesagt hat, wir lassen ein westliches Mitregieren in der Kirche nicht mehr zu; und wenn ihr als Kirche existieren wollt, wenn wir euch einigen Freiraum geben sollen, dann müsst ihr euch auf den Raum der DDR beschränken und ein eigenes Kirchenregiment ausbilden. Man kann die Sache aber auch ganz anders, von innen her sehen. Im Laufe der 60er Jahre war deutlich geworden, wie unterschiedlich die gesellschaftliche Herausforderung der Kirche war. Es war deutlich, dass eine Kirche in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft anders leben kann und muss, als eine Kirche in einer gleichgeschalteten diktatorischen, atheistisch geprägten Gesellschaft.

Ich bin der Überzeugung, es war eine innere Notwendigkeit – den Bund der Evangelische Kirchen in der DDR und – was Berlin-Brandenburg betrifft - ein zweites Bischofsamt zu schaffen, also eine gewisse Freigabe zu ermöglichen, ohne damit sich einfach loszulassen. In dem Bischofswahlgesetz, dem ich unterstellt war, war ja festgehalten, dass der Bischof die Aufgabe habe, sich in allen wichtigen Fragen mit dem Bischof der anderen Region zu konsultieren im Sinne der Einheit der Berlin-Brandenburgischen Kirche. Und die Regionalsynoden hatten keine Macht, die Grundartikel der gemeinsamen Verfassung außer Kraft zu setzen, das konnte nur eine gemeinsame Synode.

Trotzdem: die Entwicklung in den 70er und 80er Jahren hat im Grunde genommen dazu geführt, dass wir uns mit dieser Zweiteilung abgefunden haben, und dass sie vielleicht stärkeres Eigenleben entfaltete, als es notwendig gewesen wäre. Heute wird die Regionalisierung der Kirche und der Zusammenhalt der Kirche stark betont, aber wenn ich nüchtern zurückblicke muss ich sagen, wir haben doch wie zwei Kirchenkörper nebeneinandergelebt, sicher mit unglaublich vielen Verbindungen, aber doch mit der Nicht-Einmischungs-Formel. Und die hat in den 80er Jahren eigentlich nicht mehr gegriffen. Denn zu den Fragen, die die kritischen Gruppen, die Oppositionsgruppen, stellten, gehörte auch die nach den Fundamenten eines Staates, also nach der Demokratie. Als im Jahre 1985 die Demokratie-Denkschrift der EKD erschien, habe ich es als Ratsvorsitzender der EKD so erlebt, dass wir einer wirklichen Grundlagendiskussion, die zu kräftigen Spannungen zwischen Bund und EKD hätte führen können, ausgewichen sind. Ich sehe das auch als eine persönliche Schwäche an, dass wir uns mit dem gegebenen Zustand der Trennung durch die Mauer und dem „Gebot“ der „Nichteinmischung“ abgefunden haben. Ein Beispiel: Ich bin ja fast jede Woche in Ostberlin oder in der DDR gewesen, aber ich habe es geflissentlich vermieden, mich auf dem Boden der DDR mit den Vertretern kritischer Gruppen zu treffen, einfach mal reinzugucken und deren Anliegen unmittelbar anzuhören. Ich bin auf der Ebene der Kirchenleitungen und der Ebene der Gemeinden geblieben. Man hörte natürlich in Gesprächen und Berichten vieles, aber die Nichteinmischung ist doch, habe ich den Eindruck, zu weit gegangen.

Was war unsere Aufgabe? Vordringlich die, die Mauer durchlässig zu machen. Im Jahr 1986 zum 25-sten-„Jahrestag“ der Mauer hatte ich das Empfinden, wir in der Kirche müssen über die Mauer öffentlich reden. Wir reden über alles in der Welt, über Südafrika und über Bedrohung der Menschenrechte in der Welt, aber warum reden wir nicht öffentlich über die Mauer? Und ich habe mich dann mit meinem Bischofskollegen Gottfried Forck verabredet: „Ich schreibe dir einen Brief unter der Frage: Was ist die seelsorgerliche Aufgabe der Kirche im Blick auf die Mauer?“ Und er hat gesagt: „Ja, ich werde darauf antworten.“ Dieser Briefwechsel ist damals veröffentlicht worden. Mir sind vor kurzem öffentlich kräftig die Leviten gelesen worden, weil die Mauertoten in diesem Briefwechsel nicht beim Namen genannt werden. Diesen Vorwurf nehme ich an. Aber man kann nicht sagen, dieser Briefwechsel sei reine „Leisetreterei“ gewesen wäre. Unter den damaligen Bedingungen war er ein Versuch, ein Gespräch über den seelsorgerlichen Auftrag der Kirche im Blick auf die Mauer öffentlich zu führen. In diesem Briefwechsel steht zum Beispiel drin: „Wir glauben, dass Gott die Welt nicht so lässt wie sie ist. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Sie ist in Bewegung. Und wir erleiden sie auch nicht nur. Wir sollen sie als Gottesmitarbeiter nach den uns von Gott gegebenen Möglichkeiten und Kräften mitgestalten, denn unser Gebet, unser Nachdenken und Tun ist auf eine Zukunft gerichtet, in der die Mauer nicht mehr sein wird.“

Das war eine Verweigerung aus Glauben gegenüber dem „Faktum“ der Mauer. Honecker hat ja 1989 noch gesagt: „Die Mauer kann noch hundert Jahre stehen.“ Der Briefwechsel öffnet eine Perspektive, die in den 80er-Jahren wichtig war, nämlich über diese Trennung hinaus zu denken, sie infrage zu stellen.

Bischof Schönherr hat sich der Frage gestellt: Was haben wir falsch gemacht, wo haben wir uns gedrückt? Was war Leisetreterei?

„Wir haben nichts gesagt zu den Diffamierungen und Ausweisungen von Schriftstellern und anderen, teils aus Angst, teils aus wenig konkreter Kenntnis. Die hätten wir uns aber verschaffen können.

Wir haben uns zu wenig um Justiz und Strafvollzug gekümmert. Uns wurden immer nur einzelne Fälle nachgebracht, oft mit der dringenden Bitte, ja keinen Gebrauch davon zu machen.

Wir haben zu wenig gegen die allgemeine Bespitzelung protestiert.

Wir waren manchmal mit unseren Protesten nicht konsequent genug und haben uns zu schnell beschwichtigen lassen.“

Aber ich kann dem überheblichen Urteil nicht zustimmen, die Evangelische Kirche habe sich in den 70er und 80er Jahren kampflos gleichschalten lassen. Dann wäre sie nicht das Dach der Opposition geworden. Sondern sie hat nach dem Mauerbau in einer ungeheuer zähen Aus-einandersetzung in den eigenen Reihen versucht, den Weg abzuklären. Und es ist eben schon gesagt worden: Sie hat durch ihrsynodales System für den Übergang in die Demokratie eine Unmenge von Vorarbeit geleistet, indem sie die Pluralität gelebt, zugelassen und ausgestanden hat und doch dabei zu klaren Positionsbeschreibungen in einer so undurchsichtigen und gleichgeschalteten Gesellschaft gekommen ist.