Beitrag von Prof. Dr. Hartmut Kreß: „Gentechnik – Fluch oder Segen?“

„Gentechnik – Fluch oder Segen?“

Das Thema der Gentechnik werde ich in sieben Schritten erörtern. Zunächst werde ich grundsätzliche Punkte ansprechen; danach widme ich mich Fragen, die konkret, ja tagespolitisch strittig sind, und zwar besonders der Auseinandersetzung um die Präimplantationsdiagnostik.

1. Geht die Menschheit einer „Genfalle“ entgegen?

Im Jahr 2000 ist in der Diskussion zur Gentechnik immer wieder das Schlagwort der „Genfalle“ zu hörengewesen. Das Wort „Genfalle“ wandelt den Begriff der Fortschrittsfalle ab. Es deutet an, daß sich mit der Gentechnologie Doppeldeutigkeiten und negative Effekte verknüpfen.

Vorab möchte ich freilich ganz nachdrücklich betonen: Zahlreiche Anwendungen der Gentechnik haben einen guten Sinn; sie dienen der Linderung von Leid, der Therapie von Krankheiten und entsprechen der medizinischen Heilungsverpflichtung. Ein Beispiel ist die vorsorgliche genetische Diagnostik an erwachsenen Patienten. Durch eine genetische Untersuchung kann analysiert werden, ob Patientinnen oder Patienten erblich, genetisch z.B. für Brustkrebs oder für Darmkrebs anfällig sind. Aus dieser genetischen Diagnostik können die Patientin oder der Patient dann persönliche Konsequenzen ziehen: das Gesundheitsverhalten (etwa die Ernährung) entsprechend einrichten, regelmäßig Untersuchungen durchführen lassen, frühzeitig medizinische Vorsorge treffen, notfalls rechtzeitig einen chirurgischen Eingriff durchführen lassen, und anderes. Die genetische Diagnostik besitzt damit eine humane, menschendienliche gesundheitspräventive Funktion und verhilft dazu, daß Krankheiten rechtzeitig behandelt werden. Es läßt sich nicht verantworten, solche sinnvollen Seiten der Gentechnik beiseitezuschieben und den gentechnischen Fortschritt einseitig als negativ anzusehen.

Dennoch: Andererseits löst der Fortschritt der Gentechnologie Befürchtungen aus, die durchaus begründet sind. Denn Fortpflanzungsmedizin und Gentechnik können mißbräuchlich angewendet werden, z.B. zum reproduktiven Klonieren oder zur vorgeburtlichen Geschlechtsauswahl und der Aussonderung von weiblichen Feten. In Ländern mit entsprechenden kulturellen Vorstellungen, etwa Korea, wird letzteres praktiziert.

Darüber hinaus kann Gentechnik zur Ideologie, zu einer Fortschrittsideologie werden, die das Maß des Menschlichen, des menschlich Vertretbaren überschreitet. Vor einem Jahr gab der Präsident der Firma Celera Genomics, Craig Venter, in Washington bekannt, seine Firma habe nahezu das gesamte Genom des Menschen entschlüsselt. In der Öffentlichkeit brach die geradezu theologische Frage auf: Wird - mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms - der Mensch in den Rang eines Schöpfers seiner selbst versetzt? Ein amerikanischer Aktivist eines gentechnologischen Fortschrittsoptimismus, Gregory Stock, bejahte ein solches neues Schöpfertum des Menschen und betonte: „Denen, die sagen, wir dürfen nicht Gott spielen, halte ich entgegen: wir tun es schon längst - jedes Mal, wenn wir ein Verhütungsmittel benutzen oder eine Niere verpflanzen“. Der Mensch könne und solle durch Gentechnik die Kontrolle über seine eigene Evolution übernehmen. Damit würde er dann – so die Suggestion - in eine Schöpferrolle, in eine quasi gottähnliche Rolle gelangen.

Dies ist freilich eine überdehnte und ideologische Sicht. Die Kontrolle über die eigene Evolution zu erlangen würde letztlich ja heißen, Gesundheit ließe sich technologisch mehr oder weniger gewährleisten; Behinderung, Krankheit wären weitgehend überwindbar. Nun ist dies schon allein rein technisch, technikimmanent und pragmatisch eine Illusion. Zudem ist völlig unvertretbar, daß überhaupt einer Erwartungshaltung Vorschub geleistet wird, durch den gentechnischen Fortschritt könnten die Grenzen des Menschseins – Krankheit, Behinderung, der Alterungsprozeß – weitgehend aufgehoben werden. Die Schattenseiten der Welt, Krankheit und Leiden werden technologisch nicht umfassend besiegt werden können. An der grundsätzlichen Endlichkeit und der Unvollkommenheit der weltliche Existenz läßt sich letztlich nicht rütteln, ungeachtet der Vision eines genetic enhancement, einer genetischen Verbesserung, die vor allem in den USA vorgetragen wird.

Das heißt nun aber erstens: Zur Gentechnik sollten keine überzogenen Hoffnungen geweckt werden. Es sollten – zweitens - aber auch keine pauschalen Warnungen vor moralischen Dammbrüchen ausgesprochen werden. Die Warnung vor dem Dammbruch ist immer wieder in kirchlichen oder in politischen Äußerungen zu hören. Etwas ganz anderes als eine solche plakative, pauschale Warnung vor einem Dammbruch ist jedoch notwendig, nämlich ein abwägender Umgang mit den tatsächlichen - und zwar mit den durchaus begrenzten - Möglichkeiten dieser neuen medizinischen Technologie. Denn zutreffend ist: Durch die Gentechnik entstehen in der Tat ethische Zweifelsfragen; es brechen ethische Wertkonflikte auf. Daher sind verantwortliche Abwägungen vonnöten.

2. Wertkonflikte aufgrund der Gentechnik

Zur Zeit wird in der Bundesrepublik Deutschland die Präimplantationsdiagnostik äußerst kontrovers diskutiert. An diesem Thema erweist sich beispielhaft die Notwendigkeit der sorgsamen Güterabwägung. Der Sachverhalt ist bekannt: Die Präimplantationsdiagnostik betrifft frühe Embryonen, die sich außerhalb des Mutterleibes befinden und durch künstliche, technisch assistierte Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) erzeugt worden sind. Solche Embryonen können in den ersten Entwicklungstagen auf genetische Defekte hin untersucht werden. Falls ein familiär vererbter Gendefekt, eine schwere Erbkrankheit und genetische Belastung festgestellt wird, wird man darauf verzichten, den Embryo der Mutter zu implantieren; man läßt ihn absterben. Damit werden der Mutter und dem vorgeburtlichen Kind eine spätere pränatale Diagnose - im Umkreis bzw. nach der 12. Schwangerschaftswoche - und eine späte Abtreibung erspart.

Worin besteht nun der ethische Wertkonflikt? Es bricht ein Wert- oder Zielkonflikt auf zwischen der Aufgabe des Arztes, die Gesundheit zu fördern (denn die Präimplantationsdiagnostik soll dazu dienen, daß schließlich ein gesundes Kind geboren wird) und dem Schutz von Embryonen (es ergibt sich ja das Dilemma, daß kranke Embryonen ausgesondert und dem Tod ausgesetzt werden).

Nochmals: Zwei Werte oder zwei Güter sind gegeneinander abzuwägen - und zwar nicht nur bei der Präimplantationsdiagnostik, sondern ebenfalls bei anderen Anwendungsformen der Gentechnik -:

1.

die Gesundheit von Menschen. Hierzu gilt: Gesundheit ist ein hohes Gut. Für den Arzt und für die Medizin besteht sogar die ethische Pflicht, die Gesundheit von Menschen zu erhalten und zu stützen. Das Recht auf Gesundheit gehört – dies sei betont - zu den Menschenrechten und ist in verschiedenen Menschenrechtskatalogen der Vereinten Nationen ausdrücklich erwähnt. Ärzte und das Gesundheitssystem sind moralisch und menschenrechtlich dazu angehalten, zugunsten des gesundheitlichen Wohles von Patienten tätig zu werden. Den sogenannten therapeutischen Imperativ, den Heilungsauftrag des Arztes enthielt bereits der hippokratische Eid.

2.

Jedoch geht es auch um die Schutzwürdigkeit von Embryonen. Bei der Präimplantationsdiagnostik werden Embryonen auf ihre Gesundheit hin untersucht; kranke Embryonen werden dabei notfalls verworfen und müssen absterben. Oder ausgeweitet gesagt: Wenn an Embryonen geforscht wird - z.B. um Erkenntnisse über Krebsentstehung und über neue Therapien etwa zur Behandlung neurodegenerativer Krankheiten zu gewinnen -, dann setzt man das Leben dieser Embryonen aufs Spiel und liefert sie dem Tode aus.

 

Aus diesem Wert- und Zielkonflikt heraus - Gesundheitsförderung versus Embryonenschutz – resultiert die Frage: Welchen moralischen Status, welche Schutzwürdigkeit besitzt der Embryo, den man genetisch untersuchen oder erforschen kann? Darf man durch die Präimplantationsdiagnostik kranke Embryonen notfalls dem Tod aussetzen, damit die Mutter ein von einem bestimmten, befürchteten genetischen Defekt unbelastetes und in dieser Hinsicht gesundes Kind auszutragen vermag? Darf man an Embryonen forschen, um die Krebsbekämpfung zu fördern und damit der Gesundheit Dritter zu dienen? Oder: Ist es legitim, aus Embryonen pluripotente Stammzellen zu gewinnen, um auf dieser Basis Gewebe für schwerkranke Patienten herzustellen (tissue engineering)? Wie läßt sich mit diesem Wertekonflikt umgehen: einerseits der medizinethischen Pflicht, das gesundheitliche Wohl zu fördern, andererseits dem Schutz von Embryonen? Dies ist heute zu einem zentralen ethischen Abwägungsproblem geworden. Um auf diesen Wertkonflikt einzugehen, bedenke ich nun wenigstens ansatzweise, welcher moralische Status oder welche moralische und rechtliche Wertigkeit dem Embryo zukommt.

3. Der moralische Status von Embryonen – eine traditionelle Zweifelsfrage

Den Zugang nehme ich über die Ethikgeschichte. Denn es ist interessant und vielleicht überraschend, daß man in der Ethikgeschichte, gerade auch in der christlichen Ethik, äußerst unsicher war, ab wann vorgeburtliches Leben in einem strikten Sinne bzw. in vollständigem Maß tatsächlich schutzwürdig sei.

Die christliche Auffassung vom Beginn menschlichen Lebens war von der griechischen Antike, nämlich von der Seelenlehre bei Aristoteles geprägt. Anknüpfend an Aristoteles vertrat Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert die Idee einer sukzessiven (fortschreitenden, stufenweisen) Beseelung des Embryos. Zunächst, bei der Zeugung, erhalte der Embryo eine vegetative (pflanzliche) Seele, die anima vegetativa; aufgrund dieser niedersten pflanzlichen Form der Seele sei der Embryo überhaupt ein lebendiges Wesen. Sodann entstehe die sensitive Seele, vermöge derer der Embryo Empfindungen verspüre. Schließlich erhalte er die höchste Form der Seele, die Geistseele oder anima intellectiva; dem männlichen Embryo werde sie am 40. Tag, dem weiblichen Embryo am 80. oder 90. Tag nach der Befruchtung eingestiftet. Von diesem Zeitpunkt an handele es sich beim Embryo um einen vollgültigen Menschen im Unterschied zu Pflanze und Tier. Thomas von Aquin zufolge ist es Gott selbst, der dem Embryo die Geistseele verleiht.

Bemerkenswert ist: Diese Sicht – Einstiftung der Seele letztlich erst am 80. oder 90. Tag - war für die kirchliche Bewertung der Abtreibung und war sogar für die weltliche Rechtsordnung bis ganz weit in die Neuzeit tragend. Von der Kirche wurde die Abtreibung einer Leibesfrucht vor der Geistbeseelung, d.h. vor dem 80. Tag, jahrhundertelang erheblich geringer geahndet als die Abtreibung zu einem späteren Zeitpunkt. Im mittelalterlichen Corpus Juris Canonici hieß es: „Der ist kein Mörder, der eine Abtreibung vornimmt, bevor die Seele dem Körper eingegossen ist.“ Nach weltlichem Recht, etwa der für Jahrhunderte maßgebenden Rechtsordnung Karls V. von 1532, stand nur die Abtreibung der drei Monate alten „beseelten“ Leibesfrucht unter Rechtsstrafe, allerdings dann unter einer sehr harten, nämlich der Todesstrafe durch Schwert.

Was die katholische Amtskirche anbetrifft, so hat sie endgültig erst 1869 unter Pius IX. die Lehre von der vollen Menschwerdung am 80. bzw. 90. Tag aufgegeben. Dem heutigen katholischen Lehramt zufolge erfolgt die Einstiftung der Geistseele durch Gott sofort bei der Empfängnis. Hieraus resultiert der rigorose Embryonenschutz und das praktisch ausnahmslose Abtreibungsverbot, das für die katholische Kirche jetzt von vornherein, von der Befruchtung der Eizelle an gilt.

Ein Seitenblick: Nochmals anders deuteten das römische Recht oder die jüdische Tradition oder die japanische Kultur den Lebensbeginn; das Menschsein beginne mit der Geburt. Dies kann ich hier nicht näher entfalten. Aber ich habe angedeutet: In der Vergangenheit war man zumindest genauso unsicher wie heute; es gab eine große Schwankungsbreite in der Frage, ab wann ein Embryo ein vollgültiger Mensch bzw. ab wann menschliches Leben im strikten, vollständigen Sinn zu schützen sei. Der Gedanke, daß es sich von der Zeugung an um einen vollgültigen Menschen handele, setzte sich erst seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert durch (Immanuel Kant; Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794). Zur sachgemäßen Begründung für diese Sicht verhalf im 19. und 20. Jahrhundert dann vor allem die moderne Naturwissenschaft. Es war die moderne naturwissenschaftliche Embryologie, die es belegt hat, daß von der Befruchtung, von der Verschmelzung der Ei- und Samenzelle an eine kontinuierliche, selbstgesteuerte Entwicklung des Embryos stattfindet. Biologisch, naturwissenschaftlich gesehen ist der Embryo von vornherein eine eigenständige Einheit. Daher haben sich in der Gegenwart ethische sowie juristische Theorien oder das deutsche Embryonenschutzgesetz von 1991 die Position zu eigen gemacht, daß dem Embryo von Anfang an der Status einer schutzwürdigen menschlichen Person zusteht.

Es verdient Beachtung, daß dieser strikte Embryonenschutz in der Substanz auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Der moderne naturwissenschaftliche Fortschritt führt keinesfalls - wie oft unterstellt wird – nur in eine moralische Krise, zur Aufweichung moralischer Standards oder zu einem Dammbruch. Vielmehr hat er, was den Embryonenschutz anbelangt, moralische Normen sogar verschärft und präzisiert.

4. Heutige Positionen zum Status von Embryonen

Dennoch: Noch in der Gegenwart wird sehr kontrovers darüber diskutiert, ab wann und warum ein Embryo wie eine menschliche Person geschützt werden soll. Zugespitzt sind vier Positionen anzutreffen: 1. der vollständige Schutz von vornherein; 2. ein besonderer Schutz nach der zweiten Woche, nach der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter (Nidation); 3. besonderer Schutz vom Beginn der Gehirnbildung an, also ca. von der 7. Woche ab; 4. volle Schutzwürdigkeit erst mit oder sogar erst nach der Geburt.

Die zweite Position – Schutz ca. vom 14. Tag an – ist jetzt unter anderem für die britische Beschlußlage tragend geworden, die die Forschung an Embryonen und das sog. therapeutische Klonieren in den ersten Tagen zuläßt. Diese Position kann bedeutsame Argumente der neueren Embryologie für sich geltend machen und sich darauf berufen, daß der Zeitpunkt der Nidation, die Zeit um den 14. Tag, für die Embryonalentwicklung tatsächlich eine sehr hohe Bedeutung besitzt. Denn von diesem Zeitraum an ist der Embryo biologisch noch deutlicher als vorher ein Individuum, ein sich aus seinem eigenen Genom selbst steuerndes, aktives Lebewesen und eine eigenständige Einheit. Von da an kann endgültig keine Zwillingsbildung mehr erfolgen; es prägt sich nun auch die Körperachse aus, so daß der Embryo eine individuelle „Gestalt“ gewinnt.

Solche biologischen Einzelheiten können hier nicht näher erläutert und nicht im einzelnen auf ihre ethische Aussagekraft hin befragt werden. Vielmehr erläutere ich, wie in grundsätzlicher, ethisch-normativer Hinsicht mein eigener Zugang zum Embryonenschutz sich darstellt.

5. Normative Grundlagen für den Umgang mit Embryonen heute

Hierzu drei Gesichtspunkte, drei Leitgedanken.

a.

Das Menschenrecht auf Leben ist auch für Embryonen gültig. Menschenwürde und Lebensschutz gelten für den Embryo von vornherein.

Begründung: Für den Umgang mit Embryonen sollte meines Erachtens maßgebend sein, daß bereits das embryonale Leben an der Würde, die jedem menschlichem Leben zukommt, teil hat. Dies resultiert aus der jüdisch-christlichen Sicht von Gottebenbildlichkeit und aus dem humanistisch-aufgeklärten Verständnis von Menschenwürde. Die Menschenwürde gilt für alle Menschen - erstens - gleicherweise sowie - zweitens - voraussetzungslos. Dann kann die Konsequenz nur lauten, daß auch der Embryo von vornherein, ohne Einschränkung und ohne weitere Vorbedingung, d.h. von der Kernverschmelzung an, als schutzwürdig anzuerkennen ist. Zur gedanklichen Präzisierung ist freilich zu ergänzen:

b.

Der Schutz des Embryos läßt sich nicht verabsolutieren.

Erläuterung: Eine Verabsolutierung, die sehr problematisch ist, erfolgt durch das katholische Lehramt. Die katholische Amtskirche fordert den Schutz vorgeburtlichen Lebens „absolut“, unter allen Umständen ein. Daher läßt der Vatikan in keinem Fall, auch nicht angesichts einer schweren Not- oder Konfliktlage der schwangeren Frau, eine Abtreibung zu. In der Enzyklika Evangelium vitae von 1995 wurde Abtreibung als Mord bezeichnet. Der Vatikan vertritt damit einekompromißlose, starre Ethik.

Eine solche Position ist jedoch nicht durchzuhalten. In schweren Konfliktfällen kann sogar das menschliche Leben selbst notfalls zur Disposition gestellt werden. In der Vergangenheit hat die Ethik – auch die katholische Ethik – begründete Ausnahmen vom Tötungsverbot stets akzeptiert. Beispiele, die für die Denkbarkeit von Ausnahmen vom Lebensschutz zu nennen wären, waren bzw. sind die Selbstverteidigung, die Notwehr oder die Nothilfe oder der traditionell sog. Tyrannenmord oder – anders gelagert – die passive oder indirekte Sterbehilfe. Von daher leuchtet es nicht ein, daß die katholische Amtskirche den Embryonenschutz heutzutage quasi „absolut“, ohne jeden Kompromiß geltend macht und z.B. bei der Abtreibungsproblematik schwere Notlagen, in die schwangere Frauen geraten sind, völlig beiseiteschiebt. Ein absoluter, strikt ausnahmsloser Schutz des ungeborenen Lebens läßt sich weder ethiktheoretisch fordern noch praktisch durchsetzen. Vielmehr gilt:

c.

Vorgeburtliches Leben ist kein „absolutes“, aber ein „fundamentales“, d.h. ein besonders gewichtiges Gut. Fundamentalität bedeutet für den Fall von Wert- und Güterabwägungen Vorrangigkeit. Im Zweifel ist der Schutz des menschlichen und daher auch des vorgeburtlichen Lebens stets vorrangig. Denn das physische Leben ist die Voraussetzung für die konkrete ganzheitliche Existenz überhaupt. Der Grundsatz „in dubio pro vita“ (im Zweifel für das Leben) gilt ebenfalls zugunsten des Lebens vor der Geburt.

 

Die Konsequenzen dieser Überlegung bestehen in folgendem:

a.

Beginnendes menschliches Leben darf – da es ein fundamentales, grundsätzlich zu schützendes Gut ist - nicht instrumentalisiert und keinen abstrakten oder unklaren Zwecken aufgeopfert werden. Deshalb verbieten sich die Vernutzung, der Verbrauch von Embryonen für allgemeine, unklare Forschungszwecke oder die genetische Manipulation von Embryonen oder eine pränatale Selektion und vorgeburtliche Züchtung, von der 1999 Sloterdijk gesprochen hat.

b.

Jedoch im Einzelfall, wenn eine ganz besonders gewichtige Begründung vorliegt, kann es denkbar werden, daß man das vorgeburtliche Leben dennoch in eine Güterabwägung einbezieht und es zur Disposition stellt. Aus diesem Grund werden z.B. Spätverhütungsmittel oder in bestimmten Fällen der Schwangerschaftsabbruch toleriert. Auf dieser gedanklichen Basis können und sollten dann auch sonstige medizinethische Güterabwägungen vorgenommen werden, die sich heutzutage aufgrund medizintechnologischer Entwicklungen neu stellen. Exemplarisch läßt sich dies am Thema der Präimplantationsdiagnostik verdeutlichen.

 

6. Präimplantationsdiagnostik am Embryo

Die Einwände, die gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) erhoben werden, brauche ich hier nicht zu wiederholen. Sie lauten: Frühembryonen würden als bloßes genetisches Testmaterial verwendet und selektiert; Gesundheit werde zur Ideologie; behindertes Leben werde abgewertet; u.a. Diesen Einwänden kommt hohes Gewicht zu. Es ist deutlich zu unterstreichen, daß einer Diskriminierung behinderter Menschen in der Tat kein Vorschub geleistet werden darf; dies wäre mit dem Anliegen der Humanität und mit den heute erreichten ethischen und menschenrechtlichen Standards vollkommen unvereinbar.

Gleichwohl ist das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik meines Erachtens ethisch tragbar und vertretbar, und zwar

* in erblich belasteten Familien
* angesichts schwerer und schwerster Krankheiten
* auf der Grundlage eines authentischen Kinderwunsches und in Anbetracht einer ernsten, begründeten Sorge um die Gesundheit des erhofften Kindes
* unter definierten Rahmen- und Kontrollbedingungen, die einer quasi eigengesetzlichen Ausweitung von vornherein vorbeugen.

Zu beachten ist, daß im Falle einer Schwangerschaft in Familien, die durch eine schwere Erbkrankheit belastet sind, an einem Embryo heute doch ohnehin durchweg eine vorgeburtliche genetische Untersuchung vorgenommen würde. Diese pränatale genetische Untersuchung erfolgt in der Regel im Umkreis bzw. nach der zwölften Schwangerschaftswoche. Eine solche – späte - pränatale Diagnostik ist inzwischen üblich und wird gesellschaftlich de facto akzeptiert.

Nur: Pränatale Untersuchungen an Feten, die drei Monate alt und älter sind, haben ihre Schattenseite. Wenn eine Krankheit, ein Gendefekt festgestellt wird, führt dies zumeist zur Abtreibung der Feten. Die Abtreibung erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem sogar die Gehirnbildung bereits vor Wochen eingesetzt hat; bei dem vorgeburtlichen Kind ist Schmerzempfinden vorhanden. Diesem Dilemma, ja Abweg einer späten Abtreibung kann man, so läßt sich argumentieren, durch die Präimplantationsdiagnostik vorbeugen. Denn die Krankheit des Embryos wird durch eine Präimplantationsdiagnostik schon äußerst früh erkannt; die späte Abtötung läßt sich vermeiden. Im Grunde handelt es sich nur um die zeitliche Vorverlegung jener Abtreibung, die ansonsten ja doch, mehrere Monate später, stattfinden würde. So betrachtet erspart die Präimplantationsdiagnostik der Mutter sowie vor allem dem Embryo eine überaus problematische späte Abtreibung. In dieser frühen Phase besitzt der Embryo noch kein Nervensystem und keine Schmerzempfindlichkeit; seine Individuation oder individuelle Menschwerdung haben sich in dem frühembryonalen Stadium vor der Nidation (14. Tag) noch kaum ausgeprägt (dies wurde oben im vierten Abschnitt wenigstens kurz und andeutungsweise erwähnt). Die Präimplantationsdiagnostik kann daher in ganz bestimmten, begründeten Fällen als ein „kleineres Übel“ gelten und sollte als solches toleriert werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf die alte moraltheoretische und moraltheologische Regel aufmerksam zu machen, daß notfalls ein kleineres Übel vorzuziehen ist bzw. daß man unter bestimmten Umständen das kleinere Übel in Kauf nehmen darf.

Oder anders gesagt: Es ist widersprüchlich und läuft auf Doppelmoral hinaus, wenn Gesellschaft und Rechtsordnung späte Abtreibungen von weit entwickelten Feten akzeptieren, jedoch das ganz frühe Aussondern von sog. defektiven Embryonen, denen schwerste Erkrankungen bevorstehen, unterbinden.

Solche und eine ganze Reihe weiterer Aspekte, die ich hier der Kürze halber unausgeführt lassen muß, lassen sich zugunsten der Präimplantationsdiagnostik anführen. Sicherlich bleibt ein argumentatives Dilemma, ein ethischer Zwiespalt bestehen. Es ist unbestreitbar: Die Präimplantationsdiagnostik relativiert den Schutzanspruch menschlichen Lebens. Deshalb müßte die Rechtsordnung einen Weg finden, diese reproduktionsmedizinische Technologie nur für bestimmte schwerwiegende Krankheitsbilder, also begrenzt auf begründete Ausnahmefälle, zuzulassen. Wenn dies der Fall ist – die Zulassung nur in begründeten Einzelfällen -, dann vermeidet man den Abweg, daß Gesundheit zur Ideologie und zum „höchsten“ Gut wird und daß Embryonen um eines vagen Gesundheitsideals willen willkürlich aufgeopfert werden.

Ethisch ist darüber hinaus hervorzuheben: Losgelöst von der Rechtslage bleibt es die persönliche Entscheidung, die Gewissensentscheidung der Eltern selbst,

* ob sie eine Präimplantationsdiagnostik durchführen lassen oder
* ob sie darauf verzichten,
* ob sie die Geburt eines behinderten Kindes von vornherein akzeptieren wollen oder
* ob sie ganz auf die Verwirklichung eines Kinderwunsches verzichten oder
* die Adoption von Kindern als Alternative vorziehen.

Große Bedeutung hat es, daß Eltern, die eine Präimplantationsdiagnostik erwägen, in medizinischer und in ethischer Hinsicht umfassend beraten werden (genetische und ethische Pflichtberatung); hierbei sollten ihnen die soeben aufgezählten Handlungsalternativen, angesichts derer sie ihre Entscheidung treffen müssen, genannt werden. Die medizinische Information und die humangenetisch-ethische Beratung sollte ihnen für ihre eigene, eigenverantwortliche, gewissenhafte Entscheidung den notwendigen Kenntnisstand und Hintergrund vermitteln.

7. Fazit: Die Notwendigkeit ethischer Abwägungen

Abschließend möchte ich betonen:

a.

Gentechnik ist weder Fluch noch Segen. Es ist auch nicht so, daß wir zwangsläufig in eine Fortschrittsfalle, in eine Genfalle hineintaumeln. Vielmehr sind Öffentlichkeit, Rechtspolitik und Wissenschaft dazu aufgefordert, Zweifelsfragen und Wertkonflikte aufzuarbeiten und jeweils Abwägungen vorzunehmen. Dies betrifft dann ebenfalls die Frage der embryonalen Stammzellen. Auch hier ist zwischen Embryonenschutz und dem ärztlichen Auftrag, der Gesundheit und Heilung zu dienen, abzuwägen. Um es wenigstens ganz abgekürzt anzusprechen: Embryonale Stammzellen lassen sich unter anderem aus sog. überzähligen, verwaisten Embryonen gewinnen. Diese verwaisten Embryonen sind aufgrund der Fortpflanzungsmedizin faktisch vorhanden. Wenn keine Aussicht besteht, daß sie einer Frau implantiert werden und nach einer Schwangerschaft dann ausgetragen werden, sind sie ohnehin dem Tod ausgesetzt; es bedeutet für sie keinen weiteren Schaden und keine Schmerzzufügung, wenn man ihnen pluripotente Zellen entnimmt. Insofern erscheint es mir vertretbar, die Verwendung solcher verwaister Embryonen – kontrolliert, unter definierten Bedingungen und für hochrangige therapeutische Zwecke – in der Stammzellforschung tatsächlich zu erwägen.

b.

Es kann nicht überzeugen, moralische Zweifelsfragen an das Ausland abzuwälzen. Auf Dauer erscheint es mir nicht überzeugend, in Deutschland die Präimplantationsdiagnostik zu untersagen, so wie es derzeit noch der Fall ist, und Eltern, die die Sorge haben, ihre Kinder könnten eine schwere Krankheit erben, faktisch an das Ausland (z.B. Niederlande, Belgien, Spanien) zu verweisen. Ebenso wenig kann es überzeugen, embryonale Stammzellen lediglich aus dem Ausland importieren zu wollen, so daß die moralische Problematik, die die Entnahme von pluripotenten Stammzellen aus Embryonen ja in der Tat aufwirft, auf das Ausland überwälzt würde. Dies liefe auf die Etablierung einer Doppelmoral hinaus und käme weder der eigenen moralischen Integrität noch dem Embryonenschutz zugute. Sofern bestimmte Handlungsoptionen nach umfassender Abwägung, trotz verbleibender Zweifel, ethisch vertretbar erscheinen, sollten sie auch hierzulande durchgeführt werden dürfen.

c.

In Kirche und Öffentlichkeit warnen manche Stimmen, jetzt zuletzt die katholische deutsche Bischofskonferenz, meines Erachtens zu plakativ und zu pauschal vor einem moralischen Dammbruch durch die moderne Medizin. Die katholische Bischofskonferenz hat in ihrer Erklärung vom 8. März 2001 die Präimplantationsdiagnostik strikt und apodiktisch, ohne genauere Begründung und Abwägung, abgelehnt. Solche Warnungen laufen Gefahr, daß sie die positiven Aspekte, nämlich die humanen, dem Wohl kranker Menschen dienenden Ansätze in der modernen Medizin zu sehr beiseiteschieben. Wenn Reproduktionsmedizin und Humangenetik zu pauschal verworfen werden, ist dies für das Ringen um ethisch tragfähige Entscheidungen nicht hilfreich und rückt dies den therapeutischen Imperativ, den Gesundheits- und Heilungsauftrag der Medizin und die Chance therapeutischer Fortschritte zu stark in den Hintergrund.

d.

Die Nutzung gentechnischer Verfahren kann für zahlreiche Menschen medizinisch sinnvoll sein. Allerdings werden einzelne, betroffene Menschen vor sehr anspruchsvolle Fragen gestellt - wenn es z.B. darum geht, ob sie an sich selbst oder an vorgeburtlichem Leben einen genetischen Test durchführen lassen sollen. Die Konsequenz lautet: Es gilt, das System der genetischen Beratung auszubauen und medizinische sowie ethische Beratung sehr viel breiter anzubieten. Durch genetische sowie ethische Beratung sollte das Recht von Menschen auf informationelle Selbstbestimmung und sollte ihre Fähigkeit, in eigener Verantwortung über den Umgang mit ihrer Gesundheit und Krankheit zu entscheiden, institutionell gestützt werden. In Bezug auf die Gentechnik ist also nicht nur die Rechtspolitik gefragt und geht es keinesfalls nur um rechtliche Duldung oder gesetzliche Verbote. Vor allem sind das System der Gesundheitsberatung und dieBildungspolitik, darunter die Gesundheitserziehung in der Schule, ganz neu herausgefordert.

 

Literaturhinweis: Hartmut Kreß, Menschenwürde vor der Geburt. Grundsatzfragen und gegenwärtige Entscheidungsprobleme (Präimplantationsdiagnostik; Nutzung von Stammzellen), in: H. Kreß / Hans – Jürgen Kaatsch (Hg.), Menschenwürde, Medizin und Bioethik, Münster 2000, S. 11-37