Familienpolitik in Deutschland
Lieber Kollege Borchert,
liebe Damen und Herren,
ich möchte Sie alle ganz herzlich begrüßen. Gerne bin ich der Einladung des Evangelischen Arbeitskreises zu diesem Thema gefolgt, weil ich mich in besonderer Weise mit diesem Thema verbunden fühle. Auf zwei Dinge hat der Bundesvorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises schon hingewiesen. Ich bin wesentlich mit dem jetzt aktuellen Beschluss der Bundes-CDU zum Thema "Familie" befasst gewesen, als CDA-Bundesvorsitzender, der ich bis Anfang Juni dieses Jahres gewesen bin, haben wir das maßgeblich mitangeschoben, dass die CDU nach den verlorenen Bundestagswahlen sich mit dem Thema Familienpolitik neu und intensiv beschäftigt. Wir hatten den Eindruck gewonnen, daß wir leider in den letzten Jahren unserer Regierung ein Stück der Familienkompetenz – zumindest aus der Sicht der Wähler – verloren hatten – eine Familienkompetenz, die wir vorher unbestritten besaßen. Zweiter Grund ist, ich bin Pfarrer der Berlin-Brandenburgischen Kirchen, und wenn ich mir das wichtigste Buch anschaue, ich meine die Bibel, durchzieht sie schon auf den ersten Kapiteln ein hoher Respekt unserer Vorfahren und Gottes vor der Familie, vor der Aufgabe und der Rolle von Vater und Mutter, bis hin zu dem Auftrag, Kinder in die Welt zu setzen. Das ist also nicht nur etwas Lustvolles, etwas Anstrengendes, manchmal auch Enttäuschendes, sondern es ist ein Auftrag Gottes. Und, das will ich nicht verheimlichen als Vater von fünf Kindern, ist das auch ein Thema, das mich in besonderer Weise ganz persönlich beschäftigt und immer wieder beschäftigt hat.
Ich gehe mal davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland als ein Land des sogenannten christlichen Abendlandes auf dem angedeuteten biblischen Hintergrund in die Verfassung reingeschrieben hat: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates". Mit diesem Verfassungsauftrag steht die Politik, stehen aber auch wir, d. h. jeder Einzelne und alle gesellschaftlichen Gruppen in der Pflicht. Es geht dabei nicht um die Prämierung von Liebe. Es geht um die Schutzfunktion von Vater und Mutter für das neue Leben, für das Kind. Es geht um das gegenseitig Helfen, es geht, wenn Sie wollen, um so etwas wie ein Generationenvertrag.
Deshalb finde ich die Formulierung in unserem neuen CDU-Papier sehr schön, wo Familie beschrieben wird, als die Familie, wo Eltern für ihre Kinder sorgen und Kinder für ihre dann älter gewordenen Eltern sorgen.
Familie ist wohl die stärkste Schutzmacht für das Leben eines jeden Einzelnen von uns. Die CDU formuliert in ihrem familienpolitischen Programm: "Lust auf Familie – Lust auf Verantwortung", dass die Familie eben überall da ist, wo dieses Wechselspiel, wo dieses aufeinander angewiesen sein, wo dieses einander helfen von Eltern und Kindern und Kindern und Eltern da ist. Damit ist im Grunde von einer Mehrgenerationen-Familie die Rede, denn Alt und Jung sind für einander und miteinander da. Auch unsere Gemeinden, ich meine damit jetzt nicht nur die Kirchengemeinden, sondern auch die kommunalen Gemeinden, sind in diesem Sinne Treffpunkte der Generationen, in denen eigentlich familiär gelebt werden sollte.
Wir wollen, dass die Werte der Familie, wie z. B. Treue und Verlässlichkeit, auf andere gesellschaftliche Lebensbereiche ausstrahlen. Ohne Treue und Verlässlichkeit, ohne möglichst viel davon, wäre menschliches Zusammenleben nicht möglich, unabhängig davon, ob die zwei Menschen verheiratet sind oder nicht. Wenn man sich nicht verlassen kann, dass ein Wort gilt, dass eine Verabredung etwas wert ist, dass man Verträge einhalten muss, wäre menschliches miteinander leben nicht möglich. Die Beispiele machen deutlich, dass diese Grundwerte auch auf die Arbeitswelt ausstrahlen müssten und sollten. Je mehr solche Werte, die in der Familie eine große Rolle spielen, über die Familie weit hinaus in unsere Wirtschaft- und Arbeitswelt hineinwirken, um so effektiver, um so besser wird es für uns alle sein.
Bei unserem Familienverständnis geht es um Verantwortung und um Generationensolidarität. Wir merken an diesen Stichworten schon, dass "Familie" darum Modell ist, eigentlich Modell sein müsste für unsere ganze Gesellschaft, für alle Bereiche, zur Nachahmung empfohlen. Aus dem Grunde hat Familie Vorrang, auch bei allen unseren Überlegungen, aus dem einen klaren Grund: Ohne Familie, ohne Kinder hat jede Gesellschaft ihre Zukunft verloren". Es sind die Eltern mit ihrer Liebe, mit ihrer Erziehungsmöglichkeit und ihrer Bindungskraft, die wir stärken müssen, wenn es um unsere Kinder geht. Nun könnte man meinen, wir tun das. Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen nennen – beeindruckend:
In der Zeit von 1982 bis 1998 sind die Ausgaben für die Familien in der Bundesrepublik Deutschland von 27 Milliarden auf 77 Milliarden gestiegen pro Jahr. Wir haben aber trotz dieser beachtlichen Summe inzwischen in den alten Bundesländern noch mehr als teilweise erst in den neuen Bundesländern einen – ja lassen Sie mich das so sagen – Kindermangel. Kindermangel in dem Sinne, dass es in den alten Bundesländern jetzt schon nicht mehr genug Lehrlinge gibt. Und wir können ausrechnen, dass auch in den neuen Ländern, in denen wir im Augenblick noch ein Überangebot an Lehrlingen haben. Spätestens in fünf Jahre wird es einen Mangel an Lehrlingen geben. Wir können das so genau sagen, weil wir wissen, wer heute zehn Jahre alt ist und wer also dann einer ist, der sich um einen Ausbildungsplatz bemüht. Dies droht uns in etwas längerer Zeit – angesichts von vier Millionen Arbeitslosen mag uns das trösten – auch bei den Arbeitskräften. In Baden-Württemberg und Bayern ist das heute schon so: Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel, zumindest bei gut ausgebildeten Menschen. Ein erheblicher Teil derer, die heute Langzeitarbeitslose sind, sind Menschen mit keiner oder keiner abgeschlossenen beruflichen Ausbildung.
Aber auch in den neuen Bundesländern ist Arbeitskraftmangel absehbar. Und für diejenigen, die heute 40 oder 45 Jahre alt sind vielleicht eine tröstliche Aussage, die werden auch mit 55 oder 60 Jahren noch eine erheblich größere Chance haben, auf dem Arbeitsmarkt eine gut bezahlte Arbeit zu bekommen, als die gleichaltrigen heute. Heute hat man noch den Eindruck: wenn du 55 Jahre alt bist, bist du ökonomisch betrachtet menschlicher Schrott. Keiner braucht dich mehr! – Dies wird sich, das lässt sich auch ausrechnen, nach den Geburtsdaten, die wir haben, in sehr kurzer Zeit – 10 Jahre, was ist das? – verändern. Das hängt damit zusammen, dass wir von heute 82 Millionen Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, bis zum Jahre 2040 auf 75 Millionen zurückgehen werden; vorausgesetzt eine Geburtenrate, so wie sie heute ist. Heute sind 20 % der Menschen, die in Deutschland leben, über 60. Im Jahre 2030 sind das 30 % und im Jahre 2040 sind das 40 %. Das wird dazu führen, daß im Jahre 2030 auf einen Berufstätigen, der Steuern und Beiträge bezahlt, ein Rentner kommt. – Heute ist dies noch ein Verhältnis von 3:1.
Konrad Adenauer soll mal gesagt haben: "Kinder bekommen die Leute sowieso". Offensichtlich mit dem Hintergedanken: für ausreichend Kinder musst du nicht so schrecklich viel machen, die werden sowieso geboren. Wir wissen inzwischen, dass an dieser Stelle sich Konrad Adenauer, bezogen auf unsere heutigen Verhältnisse, geirrt hat. Es ist nicht mehr so, dass die Leute sowieso Kinder bekommen. Über Befragungen, die durchgeführt worden sind unter Menschen zwischen 20 und 25 Jahren, wissen wir: über 80 % von den Befragten haben gesagt: Ja, wir wollen eine Familie gründen und wir wollen Kinder kriegen. – Wenn man sich die, die das gesagt haben, heute anschaut, dann haben es aber nur knapp 40 % in die Tat umgesetzt. Es tun dann aber nur knapp über 40 %. D. h. nur jeder zweite, der eigentlich mal sagte: Ich möchte das gerne machen, tut es dann nachher auch. Wir werden uns der Frage stellen müssen: Warum macht es bloß jeder/jede zweite?
Ich bin mit den Zahlen gleich fertig, aber ein paar wollte ich zu der Problematik noch nennen. Zwei Drittel aller Mütter mit Kindern und die Hälfte aller Mütter mit Kleinkindern sind berufstätig. 20 % der Kinder, die bei uns aufwachsen, sind Einzelkinder. Und in großen Städten wie Frankfurt am Main oder Berlin oder Hamburg oder Stuttgart leben 50 % der Menschen in sogenannten Single-Haushalten, d. h. jeder zweite Haushalt ist da schon nur noch ein Haushalt, der aus einer Person besteht.
Ohne Kinder verliert jede Gesellschaft ihre Zukunft. Ich knüpfe da bewusst nochmal an, auf dem Hintergrund der Zahlen, die ich Ihnen gesagt habe. Darum Kinder- und Familienförderung sind die wichtigsten Zukunftsinvestitionen eines Gemeinwesens. Deshalb sagen wir, dass in den nächsten Jahren neue Verteilungsspielräume für die Familienförderung geschaffen werden müssen. Und ich wage die möglicherweise für den nach mir kommenden Referenten provozierende Formel: Wir geben zu viel Geld an der falschen Stelle aus! Ich bin überzeugt davon, dass der Satz stimmt: Ohne Kinder keine Zukunft! Oder es ist uns egal, ob es in 100 Jahren noch Deutsche gibt oder keine gibt. Aber, wenn uns das nicht ganz egal ist, dann geht es nicht ohne Kinder. Und dann werden wir uns fragen müssen, ob das Geld, dass wir in die Hand nehmen, ob die Strukturen, die wir haben, ob unser Verhalten jungen Menschen Mut macht, sich Kinder anzuschaffen, eine Familie zu gründen. Das geht nicht ganz ohne die Frage: Was können wir uns leisten? Aber ich meine gerade wenn es um unsere Zukunft geht, wenn es um Familien und Kinder geht, darf die Geldfrage nicht die erste Frage sein. Mir wäre wichtig, oder ich muss sagen, uns – und mit uns meinte ich immer die Sozialausschüsse der CDU – dass bei einer Familie auch der Aspekt der Arbeit da ist. Neben der klassischen Erwerbsarbeit ist die Familienarbeit in unserer Gesellschaft immer noch unterbewertet. Erziehe ich z. B. die Kinder meines Nachbarn oder fremder Menschen, dann ist dies eine professionelle Tätigkeit mit allen materiellen Konsequenzen. Allerdings erstaunlicherweise relativ schlecht bezahlt. Der VW-Werker, der ein Auto herstellt oder der Autoschlosser, der ein Auto repariert, verdient mehr, als eine Kindergärtnerin oder eine Krankenschwester. Ist dies in Ordnung, bloß weil es bisher so ist? Sind Autos tatsächlich mehr wert als Menschen?
Erziehe ich aber meine eigenen Kinder, dann ist das offensichtlich keine Arbeit mehr, sondern das ist dann eine ideelle Tätigkeit, die materiell oft als minderwertig eingestuft wird. Damit sollten wir Schluss machen. Familienförderung ist kein Almosen, sondern die gesellschaftliche Bewertung für uns alle wichtiger geleisteter Arbeit.
Wir sehen dabei folgende Elemente, ein Familiengeld von monatlich 1200 DM für alle Kinder in den ersten drei Lebensjahren. Danach soll das dann auf 600 DM abgesenkt werden, und das kann und soll damit begründet werden, das die Finanzierung des Kindergartens bzw. der Schulen sichergestellt wird, und dass dann ein Teil von Elternarbeit da ist, die die Allgemeinheit für die Eltern übernimmt. Wirtschaftund Gewerkschaften fordern wir auf, verstärkt familienfreundliche Teilzeitarbeit anzubieten. Der dreijährige Erziehungsurlaub verlängert sich um ein halbes Jahr, wenn auch der Vater einen Teil dieser Erziehungsarbeit übernimmt. Also der Grundgedanke des Gesetzgebers ist dabei, wenn beide sich wie auch immer abwechseln, dann wird es diese Erziehungszeit um ein halbes Jahr länger geben. Hierfür werden - unserer Meinung nach - überdies Zeitkonten, auf denen Überstunden und Urlaubstage angesammelt werden können, hilfreich. Auch betriebliche Kindergärten oder gemeinschaftliche Kindergarten mehrerer Betriebe mit den Kirchen oder Kommunen würden weiterhelfen. Die Eltern hätten ihre Kinder in der Nähe, und die Unternehmen bekämen zufriedenere und somit produktivere Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen. Unser Anliegen ist, dass keine Familie aufgrund ihrer Kinder in die Sozialhilfe absteigen muss. Dies würde durch unser Familiengeld erreicht. Heute ist es so, und ich habe den Eindruck dies ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal: Es gibt etwa 2 % Rentner, die nur deswegen, weil sie Rentner sind, in der Armut landen. Aber fast ein Drittel von kinderreichen Familien und Alleinerziehenden fallen in die Sozialhilfe, sind also deswegen in der Armut, weil sie Kinder haben. Das müssen wir meiner Meinung nach beseitigen, wenn wir unsere Zukunft und die Zukunft nachfolgender Generationen sichern wollen. Es geht dabei aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht nur um Geld, es geht dabei zum Beispiel auch um folgende Fragen: Wie behandeln Vermieter eigentlich kinderreiche Familien? Kann eine kinderreiche Familie genauso leicht eine gute Wohnung bekommen wie ein älteres ruhiges Ehepaar? Kümmern sich eigentlich Chefs oder Chefinnen, wenn eine Mitarbeiterin schwanger wird? Oder führt das zur Schlechterbehandlung? Nehmen Verkehrsteilnehmer, Autofahrer, Fahrradfahrer, Motorradfahrer Rücksicht auf spielende Kinder? Schaffen die Kommunen und auch die Kirchen, da wo sie es könnten Wohneigentum, bevorzugtes Wohneigentum für junge Familien? Stört uns eigentlich der Lärm, wenn in der Nachbarwohnung Kleinkinder schreien, und wie gehen wir damit um? Und ist der Eindruck völlig falsch, dass wir es eher ertragen, wenn drei Hunde auf eine Wiese kacken als wenn da drei Kinder drauf spielen?
Eine familien- und kinderfreundliche Gesellschaft ist ein Anliegen an uns alle. Wer meint dies könnte der Bundesfinanzminister oder Politik alleine richten, der irrt. Gerade mit den letzten Fragen habe ich versucht, deutlich zu machen, dass dies mit uns allen etwas zu tun hat. Mit unserer Einstellung, Familien und Kindern gegenüber. Sie lassen mich zum Schluss noch mal theologisch werden, auch mit der Antwort auf die Frage: Was ist uns eigentlich wichtig in unserem Leben? Ich stelle fest, daß die meisten, die hier im Raum sind, Menschen sind, für die die Frage eigener Kinder entweder schon beantwortet ist – zumindest nicht mehr verändert werden kann. Aber ich würde Ihnen Mut machen wollen. Fragen Sie sich das selber nochmal, möglicherweise auch im Vergleich zu ihren Kindern. Was sind denn so die zwei, drei, vier, fünf, zehn wichtigsten Dinge im Leben? Was will ich als Mensch? Ich habe den Eindruck, die Werteskala dessen, was mein Leben ausmacht, was ich erreichen möchte, hat sich bei dem einzelnen Individuum in den letzten 50 Jahren stark verändert. Und ich wage mal die Behauptung, die Generation meiner Eltern, da kam Kind im Normalfall bestimmt unter den ersten drei Begriffen vor. Das ist es heute offensichtlich bei vielen nicht mehr. Woran liegt das? Ich wage die Behauptung, daß es nicht so sehr an denen, die heute gerade geboren worden sind, auch nicht an unseren Kindern, sondern an uns, den Eltern.
In diesem Sinne wünsche ich uns eine gute und hoffentlich auch nachdenkliche Diskussionsrunde. Dankeschön.
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