5. Berliner Theologisches Gespräch
23.01.2001 in der Bayrischen Landesvertretung in Berlin
Euthanasie! Ein humaner Tod?
Herr Borchert, meine sehr verehrten Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung. Gestatten Sie mir, dass ich ganz kurz erkläre, was der Marburger Bund ist, warum mich diese Einladung ereilt hat: Der Marburger Bund ist die gewerkschaftliche und standespolitische Organisation der Krankenhausärzte. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin, sondern ich bin auch Arzt und als solcher noch immer tätig, ich bin nach wie vor Oberarzt an der Radiologischen Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf. Also, ich erlebe das auch noch, worüber wir hier sprechen, das ist mir wichtig, Ihnen das zu sagen.
Natürlich fängt jeder, der über Euthanasie spricht und eine humanistische Bildung genossen hat, damit an, dass er erklärt, wie der Begriff zustande gekommen ist: Eu und Thanatos (griech.) , "der gute Tod". Ich bin Bischof Berger sehr dankbar, dass er schon gleich die heute gebräuchlichere, eigentlich natürliche, volksmundhafte Formulierung vom "schönen Tod" benutzt hat. Denn, wenn Sie mal selber in sich nachforschen, was Sie mit einem schönen Tod verbinden, dann meint der Volksmund, wenn er sagt, er oder sie hatte einen schönen Tod, etwas ganz anderes als das, worüber wir hier heute sprechen. Ein schöner Tod im Volksmund ist das völlig plötzliche, unerwartete, ohne jede Fremdeinwirkung Geschehene, übrigens auch ohne das Wissen, ob der, der da so schön gestorben ist, das überhaupt wollte.
Ein schöner Tod ist ein humaner Tod, die Unterzeile unseres heutigen Themas. Jeder Mensch wünscht sich einen schönen Tod. In unserer Gesellschaft sagt man gern, jeder Mensch hat das Anrecht auf einen schönen Tod. Aber, meine Damen und Herren, wir reden hier heute nicht vom schönen Tod, sondern wir reden vom schönen Töten.
Es gibt viel Begriffsverwirrung und deswegen möchte ich den Begriff Euthanasie möglichst wenig gebrauchen und möchte von der aktiven Sterbehilfe sprechen, weil das ist es, worüber wir reden. Nichts Schönes, was man hinter dem Begriff der Euthanasie verbergen könnte.
Im Kern geht es doch bei der gegenwärtigen Debatte um die aktive Sterbehilfe um die Frage, wie weit denn das Anrecht des Einen auf den schönen Tod zu einer Pflicht eines Anderen wird, in diesem Fall eines Arztes. Wir sind wieder einmal konfrontiert mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, dass wir alleeine unbeschreibliche Anspruchshaltung an die Gesellschaft, an das Leben, an die Medizin und an die Ärzte entwickeln. Unser Leben und Arbeiten ist heute durchzogen von Ansprüchen. Und, wenn Ansprüche da sind, dann muss man die Pflichten und die Rechte derjenigen, die Ansprüche wahrnehmen und die Ansprüche zu gewähren haben, definieren. Wir müssen Pflichten und Rechte von Patienten und Ärzten definieren.
Wenn ich sage definieren, dann meine ich nicht rechtlich, das ist eine ethische Debatte, eine grundsätzliche, gesellschaftliche Debatte. Ich bin – wie Bischof Berger – der Meinung, dass wir keine rechtliche Debatte und auch keine rechtlichen Änderungen an diesem Felde brauchen. Aber diese Debatte muss gesellschaftlich offen geführt werden, und, wenn Sie den Verlauf ethischer Debatten momentan betrachten, stellen Sie mit Erstaunen fest: Es gibt eine ganz erhebliche Abqualifizierung ethischer Debatten durch die vermeintlich wohlmeinende Forderung, doch dieses jetzt einmal ohne "ideologische Scheuklappen" zu diskutieren. Das darf uns doch nicht dazu verleiten, zwar ohne ideologische Scheuklappen, aber doch bitte auch nicht ohne ethische Grundsätze zu diskutieren. Und, wenn man heute sagt: "Ich verstehe die Kritik jener nicht, die mir jetzt mit hehrer Moral kommen", so steckt darin eine erhebliche Abqualifizierung einer ethischen Debatte, damit ist im Grunde genommen die Scheuklappe längst aufgesetzt. Und deswegen meine ich, wir müssen wirklich ganz offen über diese Dinge diskutieren.
Die zweite Vorbemerkung, die Sie mir gestatten Sie mögen, ist, dass wir uns in dieser Diskussion völlig freimachen müssen von dem Missbrauch des Begriffes der Euthanasie durch die Nationalsozialisten. Das, was dort geschehen ist, hatte mit schönem Tod oder Euthanasie in ihrem Wortsinne überhaupt nichts zu tun. Das war ein Mordprogramm, vorsätzlich an lebensfähigen Menschen durchgeführt. Und mich beschleicht manchmal der Eindruck, dass diejenigen, denen in der Debatte die Argumente ausgehen, diesen Vorwurf, man müsste sich jetzt der Geschichte stellen, und man müsste vor diesem Hintergrund so diskutieren, das als "terminales Argument" benutzen. Ein Argument, gegen das man nicht mehr ankommt, gegen das man kaum selber andiskutieren kann. Und deswegen sage ich von Anfang an, das hatte damit, so wie wir heute darüber diskutieren, überhaupt nichts zu tun.
Das Problem, meine Damen und Herren, ist so alt wie der Arztberuf. Der hippokratische Eid, zweitausenddreihundert Jahre alt, lautet im entscheidenden Satz: "Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödlich wirkendes Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen." Bischof Berger hat zurecht darauf hingewiesen, Hippokrates wird dies nicht in seinen Eid aufgenommen haben, wenn das Problem nicht schon bestanden hätte. Und nur einen Satz weiter steht etwas anderes ganz zentrales im hippokratischen Eid, was von unbeschreiblicher Wichtigkeit für die Patienten ist. Dort steht nämlich: "In welches Haus ich auch eintrete, stets will ich eintreten zu Nutz und Frommen der Kranken, mich fernhaltend von willkürlichem Unrecht und jeder anderen Schädigung". Was sagt Hippokrates damit? Er sagt, der Patient, der Kranke muss immer die Gewissheit haben, dass der Arzt als Helfender, als Heilender und nicht als Tötender an sein Bett tritt. Wenn der Patient diese Gewissheit verliert, ist das Patient-Arzt-Verhältnis ungleich viel unterminierter als wir es heute durch allerlei Abrechnungsschummeleien und andere Unappetitlichkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Ärzten, Krankenkassen und Patienten erleben. Das ist eine viel zentralere Frage und auch die hat Hippokrates schon erkannt vor zweitausenddreihundert Jahren.
Wir haben - mit der Nüchternheit der heutigen Welt – das etwas anders formuliert, kein Arzt schwört ja mehr den hippokratischen Eid, so wie sich das mancher vorstellt - eigentlich schade, man sollte das mal wieder einführen – aber, wir haben heute ein Gelöbnis, das ist § 1 der Berufsordnung der Dt. Ärzteschaft, da sind all diese schönen Sätze von Hippokrates auf die knappe Formulierung zusammengezogen: "Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen".
Übrigens, weit über die Debatte zur Euthanasie hinaus hat dies Bedeutung, auch in anderen Ländern. Ich bin in Gremien des Weltärztebundes tätig, und wir haben eine heftige Debatte z. B. mit unseren amerikanischen Kollegen gehabt, ob die Teilnahme von Ärzten an legal korrekten Exekutionen im Rahmen der Todesstrafe in Amerika zulässig ist, und unsere sonst insgesamt nicht der Progressivität verdächtigen amerikanischen Kollegen von der American Medical Sociation sind mit uns einer Meinung, dass Ärzte sich an derartigen Schweinereien nicht beteiligen dürfen. Wir haben eine heftige Debatte, ob ein Arzt überhaupt bei einer derartigen Exekution den Tod feststellen darf. Es gibt da gerichtliche Zwänge, rechtliche Zwänge, dass man das machen muss. Aber Mitwirkung an einer Hinrichtung: Nein. Also die Ärzteschaft steht - mindestens in Deutschland, aber auch in weiten Bereichen Europas und der Welt – zu dem hippokratischen Eid, der verhindert, dass ein Arzt einen Patienten aktiv tötet.
Meine Damen und Herren, immer wieder wird die Meinungsumfrage von Emnid herangezogen, nach der zufolge 63 % der Deutschen für eine aktive Euthanasieregelung in der Bundesrepublik sind. Wissen die Menschen eigentlich, was sie da fordern? Es gibt eine interessante Untersuchung, veröffentlicht in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift vom 17. März 2000, die Autoren sind: Helou et alii, und die haben einfach mal untersucht, wie man in Bevölkerungsumfragen eine so schwierige Frage überhaupt "er"-fragen kann, mit welchen Techniken. Ich will nur einen Satz aus dieser Arbeit zitieren, weil die das viel besser ausdrücken können als ich: "Die Validität hoher öffentlicher Zustimmungsraten muss zurückhaltend betrachtet werden, da insbesondere bei Bevölkerungsbefragungen aus einer Reihe von methodischen Gründen, mit einer Verzerrung des Antwortverhaltens im Sinne einer in einer falsch-hohen Akzeptanz zu rechnen ist. So ist unklar, in wieweit sich die bei Bevölkerungsbefragungen geäußerte Zustimmung wirklich auf aktive Sterbehilfe bezieht und nicht auf andere, weniger umstrittene Formen, wie passive oder indirekte Sterbehilfe".
Hier wird das Argument aufgenommen, das Bischof Berger auch sagte, der sich selbst dazu bekannte, dass er Schwierigkeiten mit der Abgrenzung der Begriffe habe. Ich habe diese Schwierigkeiten nicht so wie Sie, aber ich verstehe, dass die meisten Menschen sie haben, und das knüpft an die zweite Untersuchung an. Sie ist von Kirschner und Elkeles in einer Zeitung namens "Gesundheitswesen" 1998 veröffentlicht. Die Autoren haben die "Fachleute" in diesem Metier, nämlich Ärzte befragt, doch einmal sauber zu definieren, was ist aktive Sterbehilfe, was ist passive Sterbehilfe, Hilfe zum Sterben, Hilfe beim Sterben. Sie haben festgestellt, 40 % der Ärzte in der Bundesrepublik sind überhaupt nicht dazu in der Lage, saubere, philosophisch korrekte Abgrenzungen dieser schwierigen Begriffe zu treffen. Wenn es aber selbst Ärzten schwer fällt, sich in dieser einschüchternden Terminologie zurechtzufinden, wie schwer wird das dann überhaupt erst für einen "Laien". Und deswegen hinterfrage ich einfach, ob die Deutschen wirklich wissen, wozu sie zustimmen, wenn sie das so in einer Befragung äußern.
Es gibt noch einen ganz entscheidend interessanten Unterschied, den kennen wir nun aus Holland; ich habe in Vorbereitung der heutigen Debatte mit dem zuständigen Beamten des holländischen Gesundheitsministeriums in der letzten Woche telefoniert, der übrigens ein sehr vernünftiger Mensch ist. Nicht alle Beamten können immer für die Regelungen, die in ihren Ministerien gemacht werden, und der hat auf ein ganz erstaunliches Ergebnis hingewiesen: Obwohl 70 % - 90 % der Holländer - je nach Umfrage - für eine aktive Regelung der Euthanasie eintreten, und das befürworten, was momentan in der 1. und 2. Kammer des holländischen Parlaments diskutiert wird, möchten gleichzeitig weniger als 10 % für sich selbst davon Gebrauch machen. Also wir haben hier einen erstaunlichen Unterschied zwischen Handlungsmöglichkeit und Handlungsvollzug. Ich interpretiere das so, unsere Gesellschaft lebt heute von ihren Freiheitsgraden, wir alle wollen viele Freiheitsgrade, ob wir sie hinterher einlösen, ob wir das wirklich dann tun, ist dann eine ganz andere Frage.
Und deswegen drängt sich mir die Frage auf, was liegt denn eigentlich diesem Wunsch der Menschen, der da so etwas unspezifiziert geäußert wird, zugrunde? Wer könnte das besser formulieren als Rainer Flöhl, Chefkommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in einem Kommentar, am 04.01.2001 in der FAZ erschienen: Zitat: "Die Forderung nach dem Freitod oder dem Gnadentod wird von den Befürwortern immer wieder mit dem Argument gestützt, dass viele Todkranke danach verlangten. Diese Behauptung ist irreführend. Die Erklärung, sich töten lassen zu wollen, ist ein verschleiertes Alarmzeichen, das menschliche Not signalisiert und einen letzten Appell zum Beistand bedeutet. Bitte um aktive Sterbehilfe ist Bitte um Sterbebeistand."
Auch die Holländer übrigens, bei aller Verdammnis, die wir ihnen für diese Regelungen aussprechen müssen, haben diese Regelungen nur eingeführt in dem Wunsch und in der tiefen Hoffnung, sie so wenig wie nur irgend möglich anwenden zu müssen. Es geht um Freiheitsgrade in der Gesellschaft, nicht um Handlungsvollzug.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute eine Ethik in der Medizin diskutieren, dann dürfen wir die Medizin nicht isoliert betrachten. Sie ist Teil unserer Gesellschaft und daher von der gesellschaftlichen Gesamtsituation entscheidend beeinflusst. Aber Krankheit, Sterben und Tod sind aus unserem Selbstverständnis weitestgehend verschwunden. Unser Lebensgefühl ist geprägt vom Idealbild des gesunden, jugendlichen Menschen, der die Integrität seines Körper pflegt und aufrechterhält, joggt, Tennis spielt und der nur in bedauernswerten Ausnahmefällen gezwungen ist, sich der Hilfe der modernen Medizin zu bedienen. Diese Hilfe, meint er dann allerdings verbindlich einfordern zu können, er meint mit seinem Krankenkassenbeitrag gleichzeitig einen Anspruch auf Heilung und Gesundheit erworben zu haben. Weil wir Krankheit und Tod so effektiv verdrängen, weil uns die großen Erfolge der Medizin so selbstsicher machen, ist das Verhältnis zwischen moderner Medizin und Gesellschaft gestört. Natürliche Grenzen werden nicht mehr wahrgenommen, dadurch sind die Erwartungen an die Medizin überzogen und sie müssen zwangsläufig von uns immer wieder enttäuscht werden. Die zunehmende Technisierung und Spezialisierung der Medizin, sowie die damit verbundene unüberschaubare Flut von nicht mehr verständlichen Informationen und Eindrücken bewirken, dass viele Menschen eine überwiegend reservierte, ja sogar misstrauische Einstellung zur Medizin entwickeln.
Um das gestörte Verhältnis zwischen Gesellschaft und Medizin wieder ins rechte Lot zu rücken, müssen wir uns neu orientieren. Und mit uns meine ich jetzt uns Ärzte, und uns um einen gemeinsam getragenen Grundkonsens bemühen. Dafür müssen wir die Einsicht und die Akzeptanz befördern, dass die Medizin Teil der Gesellschaft ist, dass ihr trotz aller Erfolge Grenzen gesetzt sind, dass Krankheit ein natürlicher Bestandteil des Lebens und kein unvorhergesehener und bedauernswerter Defekt oder Ausnahmezustand ist, und dass der Tod unausweichlich ist
Der Gesundheitsökonom Krämer aus Dortmund hat das einmal ganz sarkastisch formuliert: "Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Mortalität der Deutschen immer 100% betragen wird."
Angesichts dieser Situation ist die aktive Tötung eines anderen kein Ausweg, eher eine Gefahr, vor allem dann, wenn der Tötungswunsch gar nicht mehr selber formuliert werden kann, sondern der mutmaßliche Wunsch zur Tötung von Ärzten oder Angehörigen formuliert wird. Das ist immerhin in 20 % der Fälle exekutierter Euthanasie in Holland der Fall. Hier begibt sich die Gesellschaft auf ein sehr dünnes Eis; nicht mehr "Mord oder Selbstmord auf Verlangen", sondern "Mord oder Selbstmord auf vermutetes Verlangen".
Es gibt Beschreibungen, dass das "vermutete Verlangen" durchaus mit einer sozialen Pflicht unterlegt wird. Der alte oder der kranke Mensch wird in einer auf Jugendlichkeit getrimmten Gesellschaft zur Last. Wie "sortiert" der oder die Exekutierenden, was am vorgetragenen, vermuteten Verlangen Eigeninitiative, was sozialer Druck ist?
Aus meiner Erfahrung als Arzt will ich Ihnen sagen: Das Problem, die Frage nach der aktiven Sterbehilfe wird viel öfter in Situationen gestellt werden und dann auch entschieden werden müssen, in denen der Betroffene selbst zu keiner eigenen Äußerung - im Vollbesitz geistiger Kräfte - mehr fähig ist. Es geht meist um moribunde, oft bewusstlose oder bewusstseinsgetrübte Menschen, auf deren vermutlichen Willen man dann zurückgreifen muss. Und da tut sich ein unendlicher Problemkreis auf mit z.B. Patientenverfügungen: ich halte Patientenverfügungen für eminent wichtig, aber für genauso wichtig halte ich, dass ich mir - als Arzt - selber eine Meinung bilde, ob ich mich an die Patientenverfügung halte oder nicht. Was Herr Berger gesagt hat, ist unbeschränkt zu unterstützen, eine Patientenverfügung, die ich als gesunder 40-jähriger irgendwo hinterlege, auf die kann ich mich als kranker 70-jähriger nicht berufen, sondern die Patientenverfügung muss widerspiegeln, dass ich wusste, dass ich krank war, sie muss die Ernsthaftigkeit der Situation widerspiegeln. So kann ich nur jedem, der dieses Instrument für sich einsetzen möchte, raten, regelmäßig diesen Willen, diesen Wunsch zu erneuern. Das ist kein Testament, was man beim Notar einmal abgibt, und das war es dann.
Aber auch die anderen, vom Gesetz vorgezeichneten Wege sind problematisch. Das Betreuungsgesetz mit der Einrichtung eines Betreuers, oder der arme Vormundschaftsrichter, der das nach diesem Betreuungsgesetz entscheiden muss, die Richter sind dort oftmals genauso hilflos wie wir Ärzte. Und Angehörige und Freunde sind angesichts des sozialen Drucks auch manchmal überfordert. Ein Beispiel: Da wohnen die Enkel mit zwei Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und die Großmutter, die krank ist, wohnt in dem wunderbaren, großen Haus – wie sollen Sie als Arzt in der Situation diesen sozialen Druck von dem vermuteten Verlangen dissoziieren und trennen können?
Das ist eine unmögliche Überforderung, ich will es plastisch und hart formulieren: Der Schritt vom Arzt zum Richter ist hier nicht mehr weit. Und den möchten wir nicht gehen.
Wir sind deswegen überzeugt, wir brauchen keine Debatte über aktive Sterbehilfe oder über Euthanasie, wir brauchen stattdessen eine gesellschaftliche Debatte über Umfang und Grenzen medizinischer Behandlung. Und wir brauchen Instrumente, um den Menschen die Angst vor dem Sterbevorgang an sich zu nehmen. Wir brauchen menschlichen, medizinischen, genauso wie spirituellen "Sterbebeistand".
Es fehlt in Deutschland an Einrichtungen, in denen ein Sterben in Würde möglich ist. Die Desintegration der Familie als eine solche Einrichtung hat dazu geführt, dass Sie heute fast nicht mehr zu Hause im Kreise der Familie sterben können. Und ich könnte Ihnen furchtbare Dinge erzählen, wie kranke, alte Menschen bei uns in den Kliniken abgeladen werden, weil die Familie sich oftmals auch dieser Verantwortung und Pflicht nicht stellen will. Das hat auch etwas mit Freiheitsgraden in unserer Gesellschaft zu tun.
Aber, meine Damen und Herren, die Krankenhäuser werden heute als ein Dienstleistungsbetrieb, als eine Hochleistungsmaschine für Medizin, von manchen sogar als ein Profit-Center betrachtet. Und mit diesen schwierigen Vorgängen ist ein Profit nicht zu machen, das kann ich Ihnen sagen. Und deswegen muss sich auch das Bild, wie wir Krankenhäuser betrachten und einschätzen, ändern.
In einer zunehmend technischer werdenden Medizin werden wir Mediziner auch immer mehr zu Technikern. Es ist eine grundsätzliche Überforderung meines Berufes, dass Sie von mir auf der einen Seite erwarten, dass ich Ihnen Medizin von Raumfahrtniveau biete, was ich kann, und dann gleichzeitig noch mit dem Verständnis des traditionellen Hausarztes auf Ihrer Bettkante sitze und mit Ihnen in der Lage bin, zu kommunizieren. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind, ich sage das ohne jeden Vorwurf, kommunikationsunfähig durch das, was wir jeden Tag machen. Wer wie ich, den ganzen Tag nur Bildgebungsmaschinen bedient und sich in Computersprache unterhält, der kann nicht hinterher mehr in Ruhe auf einer Patientenbettkante sitzen und über so schwierige Probleme reden. Wir überfordern auch die Ärzte. Und wir überfordern nicht nur die Ärzte in den Kliniken, auch die hochspezialisierten Niedergelassenen, genauso wie die Hausärzte, Indem wir, statt ihnen dieses Feld zuzuweisen und zu überlassen, sagen,dass heute jeder Hausarzt auch endoskopieren, sonographieren und so weiter und so fort können soll. Ich glaube, wir müssen hier zu einer vernünftigeren Arbeitsteilung und das heißt vor allem zu einer vernünftigeren Aus- und Weiterbildung der Haus- und der Fachärzte kommen.
Im Versuch, bisher Gesagtes zusammenzufassen, möchte ich ein paar Forderungen aufstellen:
Wir brauchen dringend mehr Palliativstationen. Es gibt einige wenige, es gibt Vorreiter davon, Pichelmaier in Köln ist ein solcher, aber wir brauchen mehr Palliativstationen, in denen das professionell gemacht werden kann, denn man kann das heute nicht mehr Laien überlassen.
Wir brauchen Hospize.
Aber, wir brauchen auch die Menschen, die Schwestern, Pfleger, Sozialarbeiter, Seelsorger und Ärzte, die in diesen Palliativstationen und Hospizen arbeiten, und die müssen qualifiziert sein. Auf die kommt ein ganz hohes Anforderungsprofil zu, das ist keine einfache Arbeit. Und nichts wäre schlimmer, als wenn uns das widerführe, was in der Schweiz momentan Gang und gäbe ist. Wenn Sie über diese Selbsthilfeorganisation Exit lesen, dann werden Sie feststellen, dass es dort inzwischen "Todesengel" gibt, die sich daran berauschen, Tag für Tag zu einem anderen Suizid zu flattern, um dort den Schierlingsbecher an die Bettkante zu stellen. Das sind sicher keine primär kranken Hirne, aber diese Hirne werden krank durch das, was sie tun. Und deswegen brauchen wir besondere Menschen mit besonderen Qualifikationen und besonderer psychischedr Schulung und Begleitung, die diese schwere Arbeit leisten können.
Aber, über die Probleme des Beginns und auch des Endes möglicher und oft auch nötiger, manchmal aber auch quälender Therapie müssen wir reden. Behandlung abbrechen oder fortsetzen, das ist eine der schwersten Fragen, die sich Patienten, Ärzte und Angehörige manchmal stellen und die sie beantworten müssen.
Dabei stehen in der persönlichen, wie aber auch in der politischen Debatte, uns zwei aus derselben Quelle des Humanismus gespeiste Grundströmungen scheinbar völlig konträr gegenüber: auf der einen Seite verlangen Lebensschützer vom Arzt auch angesichts total unmöglicher Zukunftsaussichten für einen Patienten alles nur mögliche zu tun. Es soll alles gemacht werden, und der Arzt kommt durchaus auch in juristische Probleme, wenn er nicht alles tut, was hier von ihm verlangt wird. Auf der anderen Seite beschleicht uns alle, auch mich als Mensch und Patient, die Furcht vor einer gnadenlosen Lebensverlängerung, bei der die technischen Möglichkeiten der Medizin über die Humanitas des Sterbens in Würde Überhand gewinnen.
Mehr noch, neben der Debatte zur Euthanasie aus dem Ausland haben wir auch in der Bundesrepublik neue gesetzliche und richterrechtliche Grundlagen, die den Arzt verpflichten, das Selbstbestimmungsrecht seines Patienten vermehrt zu würdigen.
Es ist daher gut und wichtig, dass die Bundesärztekammer sich dieser Fragen angenommen hat, um Handreichungen für Ärztinnen und Ärzte zu entwickeln, die ihnen die Entscheidungen angesichts schwieriger ethischer Fragen an der Grenzlinie des Todes ermöglichen. Ich bin auch Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer und habe von Anfang an darauf gedrungen, dass diese Debatte öffentlich und unter Einschaltung der Kirchen, Selbsthilfegruppen, Politik und Medien geschieht und nicht als paternalistische Diskussion in irgendwelchen Funktionärsstübchen abläuft.
Diese Diskussion hat nun zur Erarbeitung eines Entwurfs einer "Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung und zum Behandlungsabbruch" geführt, die ich Ihnen mitgebracht habe, und die gern von Ihnen mitgenommen werden können. Und für diejenigen von Ihnen, die schon internetfähig sind, kann ich nur sagen, Sie können das unter www.bundesaerztekammer.de auch im Internet abrufen.
Diese Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung hat sechs zentrale Punkte, die wichtig sind:
1. Die Deutsche Ärzteschaft lehnt die Euthanasie, also das aktive Töten eines kranken oder behinderten Menschen uneingeschränkt, ab.
2. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist die entscheidende Richtschnur ärztlichen Handelns. Dabei kommt Patientenverfügungen eine zunehmende Bedeutung zu. Sie sind für den Arzt ein wichtiges Indiz, wenn die Kommunikation mit dem Patienten krankheitsbedingt eingeschränkt ist.
3. Der Arzt soll versuchen, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln. Dabei können ihm Angehörige und Freunde des Patienten hilfreich sein.
4. Wirtschaftliche Erwägungen dürfen bei der Entscheidung des Arztes zum Behandlungsabbruch zu keinem Zeitpunkt eine Rolle spielen.
5. Aber, im Zweifelsfall gilt immer das Gebot uneingeschränkter Behandlung. Alle Patienten haben die gleichen Rechte auf Behandlung, Pflege und Zuwendung.
6. Wachkoma-Patienten, ein besonders schwieriges Problem in diesem Umfeld, sind Lebende. Wir erwähnen sie extra in der Richtlinie um zu dokumentieren, dass ein Behandlungsabbruch ihnen gegenüber ethisch nicht zu vertreten wäre.
Es wäre nun blauäugig, davon auszugehen, dass die Diskussion mit dem jetzt vorgelegten Entwurf beendet wäre. Es ist auch nicht zu erwarten, dass nunmehr alle Kritiker verstummen werden, zu divergent sind allein die Auffassungen dieser beiden Gruppierungen, der "Lebensschützer" auf der einen Seite, die wollen, dass man alles zu allen Zeitpunkten immer tut, und derjenigen, die eine unnötige Lebensverlängerung fürchten. Wobei ich übrigens der festen Überzeugung bin, dass in einer Bevölkerungsbefragung die Mehrheit eindeutig und klar auf der Seite derjenigen liegen würde, die mehr Angst vor der unnötigen Lebensverlängerung haben, und nicht auf der Seite der "Lebensschützer", die Medizin um jeden Preis und zu allen Zeitpunkten haben wollen.
Medizinischer Fortschritt, das zunehmende Älterwerden der Menschen und eine immer ungenierter geführte Debatte um eine vermeintlich notwendige Rationierung im Gesundheitswesen stellen ganz große Herausforderungen an uns alle dar. Wir deutschen Ärzte können diesen im Interesse der von unsvertretenden Patienten nur offen, argumentativ und ethisch fundiert begegnen. Dazu sind diese Richtlinien für mich ein Meilenstein in die Zukunft.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
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