5. Berliner Theologisches Gespräch
23.01.2001 in der Bayrischen Landesvertretung in Berlin
Euthanasie! Ein humaner Tod?
Sehr geehrter Herr Borchert, sehr geehrte Damen und Herren,
seit längerem schon befinden wir uns in folgenreichen, schwer überschaubaren Übergangsprozessen. Wissenschaft und Technik erlauben und gebieten durch ihre Entwicklung, ehemals komplexe Begriffe und Zusammenhänge in immer kleinere Einheiten und Schritte zu zerlegen. Grenzen werden fließend. Zugleich verlieren damit frühere ethische, religiöse und weltanschauliche Orientierungen und Definitionen ihre Griffigkeit. Sie erscheinen als unzulänglich und überholt. Sie geraten angesichts immer differenzierterer Erkenntnisstände in Argumentationsschwierigkeiten.
Die religiösen und weltanschaulichen/ philosophischen Systeme als überpersönliche, die einzelnen Menschen umgreifende Ordnungen, als Deute- und Orientierungsgrößen scheinen weniger lebensdienlich als früher zu sein. Sie sind verblasst und teilweise erodiert.
Im Bilde gesprochen: der Zug fährt immer schneller, und zugleich wächst der Zweifel, ob er von verlässlichen Zugführern gesteuert und ggfs. auch gebremst wird. Diese Situation macht sich als Sinnentleerung und Orientierungsnot bemerkbar. Zwischen Fachleuten und dem einzelnen Menschen tut sich eine tiefe Kluft auf. Der Einzelne ist in wichtigen Fragen auf sich selbst zurückgeworfen. Ziemlich kalte Berechnungen und Abwägungen, Kosten- und Nutzenerwägungen werden sowohl von einzelnen Menschen als auch von der Gesellschaft angestellt, in Ermangelung von "objektiven", konsensfähigen Wahrheiten und Glaubensgründen.
Zeichen und Belege für dies alles gibt es viele. Ich erwähne nur die Unsicherheit in der Definition dessen, was wir "Leben" nennen. Sie ist nach meiner Ansicht greifbar in der derzeitigen Abtreibungspraxis, in der ethischen Debatte um die Gen- und Biotechnik, in der wachsenden Zustimmung vieler Menschen zum Selbstmord und zur ärztlichen Assistenz/ Beihilfe zum Selbstmord. In den Niederlanden bejahen mehr als 50 % der Bürger das Recht auf den eigenbestimmten Zeitpunkt des Sterbens, und fast ebenso viele halten in gar nicht genau definierbaren Fällen auch einen fremdbestimmten Zeitpunkt des Sterbens für annehmbar. Ich vermute, wesentlich andere Ergebnisse würden auch in anderen modernen Gesellschaften nicht zu Tage treten, wenn dort entsprechende Erhebungen durchgeführt würden. In Deutschland bejahen angeblich sogar 64 % die so genannte aktive Sterbehilfe, d. h. Hilfe nicht beim Sterben, sondern Hilfe zum Sterben.
Lebensbejahung ist nicht nur nicht mehr selbstverständlich, sie wird immer bedingter. Die Werte, von denen her über lebenswertes Leben befunden sind, sind im direkten Sinne des Wortes willkürlich. Das heißt, es ist der Willenskraft des Einzelnen überlassen, ob, wie lange und unter welchen Bedingungen er den Willen zum Leben aufbringt. Das ist eine hohe Belastung. Von der Ratlosigkeit zur Hilflosigkeit, vom Zweifel zur Verzweiflung ist es nur ein kurzer, oft fast unmerklicher Schritt. Es wird daher immer leichter, den Lebenswillen zu überwältigen.
Die hier beschriebene Situation ist nicht leichtfertig oder gar böswillig herbeigeführt, sie ist die dunkle Kehrseite ambivalenter Erfolge. Das macht ihre Schwierigkeit aus.
Christliche Grundaussagen
Jedes Geschöpf ist mit der Geschöpfwürde begabt von Gott. Jeder Mensch ist mit der Personwürde begabt. Diese Personwürde kann und soll, soweit irgend möglich, in der Persönlichkeit entfaltet werden. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Fähigkeit, bewusst zu handeln, zu unterscheiden und zu entscheiden. Inte-ressanterweise nimmt mit der Vermehrung und Differenzierung des Wissens und des (medizin)technischen Vermögens der Bedarf an Orientierung nicht ab, sondern zu. Unverhüllt und zwingend tritt hervor: Wissen ohne Weisheit, Kenntnisse ohne Einsicht (Verstehen), Tun ohne Richtungs- und Steuerungsverantwortung, kurz: Menschen ohne Glauben, ohne leitende Überzeugungen sind verloren in Willkür und Chaos. Freilich muss sich jeder Glaube, muss sich jede Überzeugung verantworten können, d.h. sie müssen gesprächs- und argumentationsfähig sein im Umgang mit Wissen und Technik. Anders können sie ihre Relevanz und Bedeutung nicht wahrscheinlich machen. Glaube/ Überzeugung sind argumentativ, aber auch nie mehr als wahrscheinlich. Ihr letzter Grund ist immer das vertrauende Ja des Menschen gegenüber einem Gott oder einer anderen Instanz, dem bzw. der man mehr glaubt als sich selbst.
Das Verlangen nach Leben und die Bejahung des Lebens ist ursprünglich dem Menschen beigegeben. Sie ist sein Urglaube.
Wird dieser Urglaube, z.B. durch Krankheit, Schmerzen, Sinnverlust, Glücksverlust, Altersbeschwerden, Katastrophen ... in so tiefe Zweifel gestürzt, dass das Lebensverlangen sich verkehrt in den Wunsch zu sterben, wie z.B. bei Hiob, dann ist dieser Wunsch zwar verständlich, es ist aber deshalb nicht schon dem eigenmächtigen Tun des Menschen anheim gestellt, ob er sich oder anderen diesen Wunsch erfüllen darf.
Die christliche Kirche glaubt: Das Leben ist eine Leihgabe Gottes. Wir haben es uns nicht gegeben und sollen es uns selbst darum nicht nehmen oder nehmen lassen.
Es gibt andere Grundüberzeugungen, z. B. die, das Leben wäre unser geschätztes oder lästiges Eigentum, über das wir verfügen dürften. Dem Anschein nach ist dies eine Position der Stärke und der menschlichen Selbstbestimmung gemäßer, in Wahrheit ist sie eine Überforderung, die bei abnehmenden Kräften als solche unweigerlich zu Tage tritt.
Verschiedene Grundüberzeugungen liegen im Streit miteinander. Das war immer so. Dieser Streit wird zwischen und auch innerhalb von Menschen ausgetragen. Er wird implizit auch um die Frage geführt, was für den Menschen gut und richtig, zumutbar oder unzumutbar sei, was als glückliches, gelingendes Leben und was als wertloses Material für bessere Zwecke zu betrachten ist.
Die christliche Position aufgrund des biblischen Zeugnisses ist folgende: es gibt die horizontale und vertikale Dimension menschlich -geschöpflichen Lebens; die vertikale Dimension ist als sinngebende vorrangig; in der horizontalen Dimension, im Miteinander der Menschen und anderer Geschöpfe ist der dem Leben von Gott eingestiftete Sinn, sein Woher und sein Woraufhin zu bewähren.
Das Sterben und der Tod sind darum nicht das gewissermaßen "letzte Werk", das wir in die Hand nehmen. Die Ideologie vom "schönen Tod", so als handelte es sich beim Sterben bloß um eine Art Transformation in ein anderes Sein, lehne ich ab. Der Tod und das Sterben sind bitter.
Dennoch glaube ich, dass unser Leben bis in den Tod hinein geborgen ist in Gott. Dieser Glaube stützt sich auf Jesus Christus als den Überwinder des Todes und der Sünde.
Unser Leben ist immer fragmentarisch, bruchstückhaft und vielfältig beeinträchtigt. Krankheit und Behinderung sind auch Ausdruck dieser Wahrheit. Unser Leben bedarf der Vollendung durch Gott. Der eigenmächtige Abbruch und die Verwerfung von Leben wegen seiner Mängel bedeutet nicht weniger, als dass sich der Mensch zum Herrn über Leben und Tod aufschwingt.
Die Medizin als menschliche Kunst im Dienste des Lebens soll die Grenzen
respektieren, die ihr als menschlichem Bemühen gesetzt sind.
Begriffsklärungen
Die ärztlich-medizinische Behandlung ist Hilfe zur Selbsthilfe im Dienste des Lebens. Angesichts des Todes geht sie über in das menschlich und medizinisch begleitete und erleichternde Sterbenlassen. Der teilweise Behandlungsverzicht bzw. der Behandlungsabbruch soll erfolgen, wenn Hilfe zur Selbsthilfe nicht mehr möglich ist.
Davon strikt zu unterscheiden ist alles Handeln, das als aktive Sterbehilfe bzw. als Beihilfe zum Suizid bezeichnet werden muss. Hier handelt es sich um Töten, weil nicht weniger beabsichtigt ist und geschieht als eine Überwältigung des Lebensvermögens zu Gunsten des Todes.
Die Begriffe "aktive" und "passive" Sterbehilfe sind semantisch unklar. Handelt es sich um Hilfe beim Sterben oder ist Hilfe zum Sterben gemeint? Meines Erachtens geht es hier in Wahrheit um Hilfe zur Herbeiführung des Todes.
In der menschlichen Geschichte begegnen sehr verschiedene Einstellungen zum Sterben und zum Tod. Das Nein zu jedem Versuch, das Leben eines anderen Menschen, mit oder ohne dessen Zustimmung, anzutasten, war nie unumstritten. Erst durch das Christentum sind die dem hippokratischen Eid verpflichteten Ärzte zum "Normalfall" geworden. In der Antike z. B. galt ja lange die Aussetzung kranker und unerwünschter Kinder als "normal"; alte und schwache Menschen ließ man sterben bzw. man legte ihnen nahe, selbst ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Das Eintreten für die Schwachen, Behinderten, Sterbenden ... ist, ob bewusst oder nicht, in der Tat ein Merkmal christlicher Auffassungen.
Christen glauben, dass die Achtung vor der menschlichen Person und, soweit vorhanden und handlungsfähig, vor der Persönlichkeit im Interesse der Stärkung und Erhaltung des Lebensmutes von Gott geboten ist. Gott ist ein Gott des Lebens. Es ist nicht verwunderlich, wenn der Lebensmut erlahmt, wo Leben verneint wird, wo die erforderlichen Bedingungen für die Erhaltung des Lebensmutes von Menschen missachtet und verschlechtert werden. Aufschlussreich sind die folgenden, teilweise einander widersprechenden Sätze. Sie geben Auskunft über unterschiedliche, menschlich verständliche, deshalb aber nicht immer auch berechtigte Grundauffassungen vom Leben.
"Wenn ich nicht mehr gewollt bin, will ich nicht mehr leben."
"Wenn ich nicht mehr ohne Hilfe leben kann, erbitte ich Hilfe zum Sterben." "Wenn ich nicht mehr kann, erbitte ich so lange Hilfe zur Selbsthilfe, wie Aussicht darauf besteht, dass ich wieder aus eigener Kraft leben kann."
"Wenn meinem Leben nicht mehr zu helfen ist, möchte ich sterben dürfen."
Es gibt ein von Gott verliehenes Recht auf Leben, aber es gibt keine unbedingte Pflicht zum Leben.
Darum soll ums Leben gekämpft werden. Solange Aussicht auf Erfolg besteht. Wenn aber keine Aussicht auf Erfolg mehr besteht, dann sind die Therapieziele zu ändern: von kurativer zu palliativer Therapie. Linderung des Leidens ist stets geboten.
Patientenverfügungen geben Aufschluss über die leitenden Grundhaltungen dessen, der eine solche Verfügung erlässt. Die Patientenverfügung entbindet aber Angehörige und Ärzte nicht von ihrer Verantwortung. Darum ist das möglichst frühzeitige Gespräch über die leitenden Grundhaltungen nötig. Dieses Gespräch ist als öffentlicher Diskurs in der Gesellschaft ebenso nötig wie im privaten und halböffentlichen Kreis.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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