Beitrag von Prof. Dr. Hans-Günter Krüsselberg: Zukunft ohne Familie? Familie ohne Zukunft?

Familienpolitik in Deutschland

7. Berliner Theologisches Gespräch

Zukunft ohne Familie? Familie ohne Zukunft?
Familienpolitik in Deutschland

am 26.06.01 in der Hessischen Landesvertretung

Prof. Dr. Hans-Günter Krüsselberg:

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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass ich hier bin. Ich habe das Gefühl, die beiden Referate unterscheiden und ergänzen sich und zwar dahingehend, dass ich von einem eher theoretischen Ansatz ausgehe, der – wie ich meine - sehr praktisch, weil realitätsbezogen ist, und zudem Themen behandele, die mein Vorredner bei seiner Darstellung politisch bedingter Ungerechtigkeiten gegenüber Familien erwähnt, aber nicht weiter vertieft hat.

1. „Familie“ und die gesamtgesellschaftliche Produktion und Versorgung

Ich beginne mit einer Unterscheidung, die wir in unseren Überlegungen zur Familienpolitik stärker beachten sollten, als es normalerweise der Fall ist. Geredet wird immer wieder von einer aktuellen Gefährdung von Familie. Was aber heißt Familie ? „Familie“ ist für mich als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler vor allem „ein Leben im Generationenverbund“.

 

Das Problem, das sich heute stellt, ist, dass durch einen Wandel der Lebensbedingungen, der mit dem Industrialisierungsprozess begann, sich dieser Familienverbund in der Gegenwart weitgehend nicht in einer Haushaltseinheit darstellt, sondern in einer Vielfalt von Familienhaushalten, die sehr unterschiedlich strukturiert sind und sich nicht unbedingt in einer räumlichen Nähe befinden. Daraus resultiert ein familienpolitisch relevantes Grundproblem, dessen Bedeutung in diesem Kontext immer wieder zentral zu diskutieren ist, obwohl es starke Lobbies gibt, die nichts davon hören wollen: Es geht um die Frage nach der sozialen Sicherung, der Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs von Menschen, in einem Familienverbund. Generationen gibt es nur in der Familienfolge. Deshalb ist der Familienverbund eine „Schicksalsgemeinschaft“. Somit kann jede Debatte über eine etwaige „Solidarität“ zwischen den Generationen nur defizitär geführt werden, wenn sie den Bezug auf Familie verweigert.

Das Referenzmodell der Sozialwissenschaften für eine historisch ältere Lösung dieser gesellschaftlichen „Aufgabe“ sozialer Sicherung ist die Idee des Hauses. In der vorindustriellen Zeit lebte man existentiell gesichert nur in einem Verband von - im wesentlichen - Verwandten, aber auch Bediensteten. Die Überlebensfähigkeit dieses Verbandes wurde gewährleistet durch die Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs durch das „Erbe“, gemeint ist das „Vermögen“, eines solchen Hauses. Ganz unmissverständlich war daher von vornherein das Thema des Unterhalts aller Mitglieder dieses Hauses ausgerichtet auf die Verfügbarkeit existenzsichernder Handlungspotentiale in diesem Hausverband. Vermögensbesitz, die Verfügbarkeit von – wie es dann später hieß – Arbeit („Humanvermögen“), Boden („Produktivvermögen“) und Kapital („Geldvermögen“) war die Voraussetzung für die Sicherung des lebensnotwendigen Bedarfs, und soziale Sicherung war das Ergebnis des Zusammenwirkens aller in diesem Haus Lebenden während der Familienarbeit und Warenproduktion.

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Wirtschaftliche Basisprobleme des Familienverbunds als Schicksalsgemeinschaft

Die Idee des „Hauses“: Die Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs und des kulturellen Bestandes durch das Vermögen („das Erbe“) des Hauses:

 

Soziale Sicherung erfolgt für alle Mitglieder des Hauses durch die Partizipation an den Ergebnissen des gebündelten Einsatzes aller Arbeitsfähigen (solidarische Sicherung).

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Diejenigen, die für soziale Sicherung in diesem Haus sorgten, waren seinerzeit die Hausherrin und der Hausherr. Ihnen fiel die Aufgabe zu einer solidarischen Verknüpfung aller Handlungspotentiale der Mitglieder dieses Hauses - und zwar einer solidarischen Verknüpfung unter den Bedingungen einer Schicksalsgemeinschaft. Unter den gegebenen Lebensbedingungen war es notwendig zusammenzuwirken, um überleben zu können. Daraus ergaben sich Zwänge zu einer Arbeitsteilung, die eine möglichst sinnvolle Nutzung aller verfügbaren Ressourcen erlaubte.

 

2. Das Bundesverfassungsgericht und die „Transferausbeutung“

Heute ist es anders. Wir wissen es inzwischen wohl alle: über das Wohl von Familien in Deutschland wachen nicht mehr Hausherrinnen und Hausherrn, sondern das Bundesverfassungsgericht. Seine Entscheidungen werden damit für unsere heutige Debatte konstitutiv. Besonders große Bedeutung ist hier dem sogenannten „Trümmerfrauen-“ oder „Familienurteil“ vom 7. Juli 1992 zu attestieren, mit dem das Bundesverfassungsgericht seinerzeit zunächst gravierende Benachteiligungen der Familien im Rentenrecht bemängelte. Den im Rentenrecht konstatierten Mangel nannten die Kläger damals und nennt die familienwissenschaftliche Diskussion seitdem „Transferausbeutung“. Transferausbeutung ist das Ergebnis dessen, dass im Alterssicherungssystem der Bundesrepublik hohe Prozentsätze (geschätzt werden 40 %) der Leistungen der Alterssicherung von Personen von Kindern anderer Personen erbracht wird. Das ist der Unterschied zu der Situation im mittelalterlichen Haus. Und diese Diskrepanz ist in ihrer Größenordnung enorm. Vor dem Bundesverfassungsgericht sind die folgenden Zahlen „verhandelt“ worden: In ansteigender Größenordnung sei jährlich eine Vermögensübertragung von (inzwischen erwerbstätigen und deshalb abgabepflichtigen) Kindern an andere Personen, oder besser gesagt: von Familienmitgliedern an andere Personen, erfolgt von zunächst über 150 Milliarden DM im Jahr 1990 auf bislang mehr als 200 Milliarden DM. Das sind die Zahlen, die vor dem Verfassungsgericht verhandelt und nicht beanstandet wurden.

Ich nannte das und nenne es weiterhin „Plünderung familiären Vermögens“ durch Gesetzgebung. Wären diese Beträge auf den Konten der Familien geblieben, wären diesen schon heute Ersparnisse zum Zweck der selbstverantwortlichen Zukunftsvorsorge möglich, wie es der Gesetzgeber in Zukunft von den Familien erzwingt. Oder: der hohe Verschuldungsgrad der deutschen Familien, über den derzeit laufend berichtet wird, dass er immer noch steige, wäre deutlich geringer oder gar ausgeblieben. Dazu ist ergänzend folgendes zu sagen: Bei seinen einschlägigen Untersuchungen über die Situation der Familien in der Bundesrepublik Deutschlandhatte das Bundesverfassungsgericht zusätzlich festgestellt, dass die Benachteiligungen von Familien nicht allein im Rentenbereich stattfinden, sondern wesentlich auch in anderen Bereichen des Rechts und der Gesellschaft. Gemeint sind nicht zuletzt verfassungswidrige Belastungen von Familien im Steuerrrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb beanstandet, dass der Familienlastenausgleich im allgemeinen unzureichend sei. Es traf zudem (in seinem Trümmerfrauenurteil vom 7.7.1992) folgende verbindliche Aussage: Von nun an, d.h.: mit dem Jahr 1992 beginnend, sei der Gesetzgeber bei jedem Reformschritt veranlasst sicherzustellen, dass die Benachteiligung der Familien tatsächlich verringert wird. Man sollte genau auf die Formulierung achten; sie lautet – bei jedem Reformschritt !

Ich fürchte, bislang hat kaum jemand die Reichweite dieses Satzes zur Kenntnis genommen, denn damit sagt das Bundesverfassungsgericht, dass die Familien in der Bundesrepublik Deutschland in nahezu jedem Lebensbereich benachteiligt sind, (wir haben im ersten Referat schon von zahlreichen weiteren Beispielen gehört). Aus diesem Grund und aufgrund der Forderungen des Grundgesetzes sei es den politisch Verantwortlichen geboten, diese Benachteiligungen der Familien in Zukunft durch gesellschaftliches und gesetzgeberisches Handeln Schritt für Schritt abzubauen. - An sich hätte ich nach dieser Entscheidung von der Politik, vom Bundestag oder von der amtierenden Bundesregierung erwartet, dass sie unmittelbar eine Expertengruppe einsetzt – vielleicht im Bundeskanzleramt – , um alle Gesetzgebungsvorgänge hinfort daraufhin zu überprüfen, ob dieser Forderung des Bundesverfassungsgerichts Genüge getan wird. Jeder von uns weiß, dass nichts dergleichen geschehen ist, und es gab und es gibt Experten - selbst in unseren Ministerien - , die meinen, hier werde ein grundlegender Konflikt sichtbar zwischen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und dem Gesetzgeber im weitesten Sinne.

Familien haben - so scheint es - keine Lobby, obwohl unser Grundgesetz unmissverständlich den Schutz der Familie vorschreibt, weil das gesellschaftliche Allgemeininteresse solches zwingend gebiete. Unter diesen Umständen verwundert es dann auch nicht, wenn bei ihrer Berichterstattung über eine weitere familienpolitisch relevante Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Frühjahr dieses Jahres (am 3. April 2001), wie wir es alle erlebt haben, die Presse sich ebenfalls als nahezu ahnungslos präsentiert bezüglich dessen, was in diesem Bereich der Beanstandung der familienrelevanten Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht schon alles vorher passiert ist. Da liest man etwa: „In seinem Urteil zur Pflegeversicherung hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einen grundlegenden Wandel in der Familienpolitik gefordert“. Das hatte es schon einige Male vorher getan und gravierend bereits 1992 mit dem Verlangen, Schritt für Schritt die Benachteiligungen von Familien in allen Bereichen der Gesellschaft abzubauen. Andererseits gibt es hochrangige Journalisten, die meinen, das Pflegeurteil sei „ein Muster ohne Wert“, es böte allenfalls Anlass für eine Reparaturnovelle. Für eine Neugestaltung der Familienpolitik sei es eben ein Muster ohne Wert. Dieser Ansicht stimmt ein oft gefragter Sachverständiger offensichtlich zu. Er wiegelt ganz klipp und klar ab: „Dieses Urteil ist ein Urteil, das uns nicht stören soll“.

In der Presse las man weiterhin, die Karlsruher Richter hätten im April 2001 nichts Geringeres als eine familienpolitische Revolution angezettelt. - Vier Urteile gab es insgesamt, und nur über eins redete man ausführlich - über das, in dem das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Nichtberücksichtigung von Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Bemessung von Beiträgen und Prämien für die Pflegeversicherung kritisiert hatte. Schaut man jedoch auf die Begründung für dieses Urteil, und das ist das Entscheidende, wird klar, dass sich das Gericht nur konsequent an die familienpolitisch relevanten Vorgaben gehalten hat, die deutlich bereits 1992 formuliert worden waren. - Die Kernsätze des Urteils vom April 2001 lauten wie folgt: „Die Versicherungsleistung versicherter Eltern begünstigt innerhalb eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwerden der Versicherten bestimmten Risikos dient, in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder“. Es ergänzt: “Eltern, die unterhaltsbedürftige Kinder haben“ und „kinderlos bleibende Versicherte im erwerbsfähigen Alter“...“beide sind bei einer Finanzierung der Sozialversicherung im Umlageverfahren darauf angewiesen, dass Kinder in genügend großer Zahl nachwachsen“. Und die bereits bekannte Botschaft wird bekräftigt: „Wird ein solches allgemeines, regelmäßig erst in höherem Alter auftretendes Lebensrisiko durch ein Umlageverfahren finanziert, so hat die Erziehungsleistung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems...“ „Für ein solches System (ist) nicht nur der Versicherungsbeitrag, sondern auch die Kindererziehungsleistung konstitutiv. Wird dieser generative Beitrag nicht mehr in der Regel von allen Versicherten erbracht, führt dies zu einer spezifischen Belastung kindererziehender Versicherter“. Das ist deshalb eine verfassungswidrige Benachteiligung, weil sie die Verfassungsgebote des Art. 3 Abs. 1 und des Art. 6 Abs.1 GG verletzt. Sie verletzt einmal den Gleichheitssatz, zum anderen die Verpflichtung des Staates, Eingriffe in die Familie zu unterlassen, und die darüber hinausgehende Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die familienwissenschaftliche Literatur, wird eines klar: Was der (zitierten) Presse und wohl auch großen Teilen der Öffentlichkeit als familienpolitische Revolution erscheint, hat, wie auch das Bundesverfassungsgericht weiß, vom Kenntnisstand her ein reifes Alter von nahezu 50 Jahren. Und das ist die eigentliche Katastrophe der langjährigen Diskussion über Familienpolitik: Die Probleme der Abkoppelung der Familienpolitik von der Politik der Sozialen Sicherung sind schon seit 50 Jahren bekannt. Wir haben davon schon seit den 50er Jahren gewusst. Die Frage, warum sich diese Erkenntnisse nicht durchgesetzt haben, wird uns noch zu beschäftigen haben.

Aber zuvor sollte, die Beantwortung dieser Frage vorbereitend, eine Rückschau in die 50er Jahre erfolgen. Damals hieß es: Erst mit dem Vollzug zweier gesellschaftlich notwendiger Leistungen, der Beitragszahlung an die Sozialversicherung und der gleichzeitigen Übernahme von Familientätigkeit, nur mit beiden zusammen kann die im Erwerbs- und Elternalter stehende Generation die Sicherung ihres eigenen Alltags garantieren. Der in christlichen Kreisen hoffentlich nicht unbekannte Oswald von Nell-Breuning hat bereits vor nahezu 50 Jahren exakt dies formuliert. Als ich dann 35 Jahre später eine eigene empirische Untersuchung zur Ermittlung des volkswirtschaftlichen Wertes von Familienarbeit abschloss, konnte ich unbesehen die „Einleitung“ beginnen mit der Verweisung auf die Formulierung von Nell-Breuning „vom großen Versäumnis der Sozialreform“, gemeint ist: „die fehlende Einbeziehung der dritten Generation in die Solidarität der Generationen“. Ebenfalls bereits 1954 schrieb Ferdinand Oeter: „Nur die Vorleistungen der Familien können das ganze soziale Leistungsgebäude des Staates, der Gemeinden und der Versicherungsträger auf die Dauer aufrechterhalten“. Die Botschaft von den Vorleistungen von Familien für alle gesellschaftlichen Aktivitäten bekräftigte der Fünfte Familienbericht aus dem Jahr 1994, der das Stichwort ausgab, in der gesellschaftspolitischen Diskussion sei stets darauf zu achten, dass jegliches menschliches Handlungspotential vom Grund auf in Familien entsteht. Er wirbt für die Verwendung des Begriffs „Humanvermögen“ zur Kennzeichnung der „humanen Potentiale“, der Kompetenzen, die Menschen befähigen, in ihrer jeweiligen Umwelt nicht nur zu bestehen, sondern diese menschenwürdig zu gestalten. Menschen sollten das „Vermögen“ besitzen, ihr Leben weitgehend selbst gestalten zu können, nicht zuletzt das Vermögen, Familie zu leben. Um die Bedeutung von Familien für den Aufbau menschlichen Handlungs- und Entscheidungsvermögens zu betonen, wählte die Kommission für ihren Bericht den Titel: Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland - Zukunft des Humanvermögens. Die Botschaft ist eindeutig: Nur in der Familie und mit der Familie wächst eine leistungsfähige neue Generation heran, die als solche die Zukunft der Gesellschaft repräsentiert, weil sie deren Inhalte durch ihre Kompetenzen und Wertmaßstäbe prägt. Deshalb bedarf es der Förderung der Leistungsfähigkeit von Familien durch politisch ausgewogene Aktivitäten.

3. Ordnungspolitische Fehlleistungen: Ursache für familienpolitische Defizite

Der Botschaft des Fünften Familienberichts und den von der Kommission ausgesprochenen Empfehlungen haben in der gesetzlich vorgeschriebenen Bundestagsdiskussion alle Parteien applaudiert. Zu fragen ist deshalb, warum muss das Bundesverfassungsgericht weiterhin eine familiengerechte Politik anmahnen ? Warum ist das, was gegenwärtig an Reformvorschlägen zur Diskussion gestellt wird, nicht bereits früher oder noch grundsätzlicher: weil es bereits schon vor 50 Jahren als vordringlich benannt wurde, damals auf den Weg gebracht worden? Es gibt meines Erachtens darauf zwei Antworten. Die erste möchte auf die Bedeutung der ordnungspolitischen Leitbilder für die Politik aufmerksam machen. Betont werden soll hier, dass sich seit der Mitte der 60er Jahre alle folgenden Regierungen Schritt für Schritt von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft abwandten, von jenen Prinzipien, die für die Politik in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmend waren. Deren Kernaussage lautete: Der Aufbau von Vermögen aller Art ist Voraussetzung für dauerhaften Wohlstand. Deshalb sollte jeder Hinweis auf einen drohenden Vermögensverzehr Anlass sein für eine Politik der Gegensteuerung. – Mit der zweiten Antwort soll darauf verwiesen werden, wie wichtig es ist, in der Politik damit zu rechnen, dass ein unausgegorenes oder unangemessenes ordnungspolitisches Leitbild über die mit ihm verknüpften Maßnahmen zu Rahmenbedingungen führt, die die bislang stabilisierend wirkenden Kräfte aushebeln und - wie es in diesem Fall beim System der Sozialen Sicherung durch die Minderung des Bestandes nachwachsenden Humanvermögens geschehen ist – die Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit dieser bedeutsamen gesellschaftlichen Institution zu gefährden drohen.

 

3.1. Die Abkehr vom Leitbild Sozialer Marktwirtschaft

Ich sage, und das ist für diesen Kreis wohl nicht uninteressant, dass seit Mitte der 60er Jahre, beginnend mit dem Sturz des Kanzlers Ludwig Erhard, Schritt für Schritt eine Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und speziell eine Abwendung von den Prinzipien einer Sozialpolitik, die im Zeichen einer Sozialen Marktwirtschaft steht, erfolgt ist. Hinfort ging die Entwicklung in Richtung auf eine Kollektivierung des Systems der Sozialen Sicherung. Trotz aller Warnungen Erhards und seines Mitstreiters Alfred Müller-Armack hat die Öffentlichkeit die Problematik dieser Entwicklung wohl kaum wahrgenommen, abgesehen von wenigen liberalen Wissenschaftlern, die immer wieder anmahnten, weiterhin ernsthaft über die ordnungspolitischen Implikationen aller geplanten Maßnahmen nachzudenken. Erhards Politik und Müller-Armacks Credo standen unter dem Motto: Eigentum für alle, Wohlstand für alle, Vermögen für alle! Für Erhard war es eindeutig, dass es im Sinne eines gesellschaftlichen Allgemeininteresses unerlässlich war, zur staatlichen Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien beizutragen. Erhard insistiert, dass erst dann, wenn die materielle Basis der Menschen geordnet sei, die "echten menschlichen Tugenden" zur Geltung kommen könnten: Fleiß, Nächstenliebe, "Verantwortungsfreudigkeit" gegenüber der Zukunft, der eigenen Familie oder auch dem Alter. Materielle Sicherung sei kein Wert an sich, sondern nur eine Voraussetzung, eine Chance zur Entfaltung menschlicher Aktivitäten vor dem Hintergrund eines „gesellschaftspolitischen Leitbilds“, in dem „die unabdingbare Priorität des Allgemeininteresses“ gegenüber den meist sehr mächtigen organisierten Interessen zu wahren sei. Zur Wahrung des Allgemeininteresses bedürfe es in einem Programm Sozialer Marktwirtschaft nicht nur der Förderung des privaten Eigentums an Haus und Boden, sondern auch der Förderung der Bildung von Geldvermögen und der Beteiligung am Produktivvermögen in allen sozialen Schichten. Eine breite Streuung des sich bildenden Vermögens stärke nicht allein die wirtschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen und der Familien, sondern auch die Stabilität der freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Dazu gehöre eine Sozialversicherung, deren Selbsthilfecharakter besonders herauszustellen sei, die weder etwas verschenkt noch ein Instrument interpersoneller Umverteilung ist. Offensichtlich ist es den Vertretern des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft jedoch seinerzeit nicht gelungen, deutlich zu machen, dass ihrem Plädoyer für eine Politik der breit gefächerten Vermögensbildung in privaten Haushalten ein ausgeprägtes Verständnis für die Alltagsprobleme von Familien in der modernen Industriegesellschaft zugrunde lag.

In der Zeit, in der diese Gedanken entwickelt wurden, habe ich in Köln studiert. Ich bin wissenschaftlich durch dieses Gedankengut der Sozialen Marktwirtschaft in seiner ursprünglichen Konzeption stark beeinflusst worden und vertrete nach wie vor die Auffassung, es solle, zeitgemäß konzeptionell fortgeschrieben, die Grundlage bieten können für die in der Bundesrepublik Deutschland zu realisierende Wirtschafts- und Sozialordnung der Zukunft. Dazu müssten wir bereit sein, Situationen wieder herzustellen, die es bereits Mitte der 60er Jahre gab. Damals - zur Zeit von Erhards Kanzlerschaft -, so rechnet es uns heute Jürgen Borchert vor, der sich nicht zuletzt in den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sehr verdient gemacht macht, damals blieb eine Drei-Kinder-Familie mit Durchschnittseinkommen einkommensteuerfrei, auf heute hochgerechnet - empfing sie zusätzlich DM 8 000,00 an Kindergeld, - all das in einer Zeit, in der familiale Belastung durch Verbrauchssteuern und Sozialversicherungsbeiträge nur etwa die Hälfte des gegenwärtig zu Zahlenden ausmachte. Jeder, der das heute liest, kann nur staunen. Aber: leider blieb es nicht dabei. Wir wissen es alle, Ludwig Erhard wurde im Jahre 1966 als Kanzler gestürzt, und dann war es bald vorbei mit dieser Variante von Politik. Ludwig Erhard hat keine 10 Jahre später in der Öffentlichkeit - meines Erachtens zu Recht - gesagt: „Die Soziale Marktwirtschaft ist schon längst passé“.

Was aber ist damit an Erkenntnissen aufgegeben worden im Hinblick auf die Notwendigkeit der zukünftigen Ausgestaltung des Systems der Sozialen Sicherung in Deutschland? Die Rentenexperten z.B., mit denen Erhard und sein Team zusammenarbeiteten, haben stets betont, dass die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren nie ausreichen könne, in Zukunft dauerhaft eine volle soziale Sicherung zu gewährleisten. Als System müsse sie ergänzt werden durch eine betriebliche Altersversicherung, was ja schon praktiziert werde, und eine privat zu finanzierende Altersvorsorge. Die private Altersvorsorge solle möglich werden als spezielle Form der Vermögensbildung in allen Schichten der Bevölkerung. Sie sei zu finanzieren durch Zurückhaltung des Staates in Bezug auf den Zugriff auf die in den Familien erwirtschafteten Einkommen. Zurückhaltung im Bereich des Steuer- und Abgabenwesens sollte die private Vermögensbildung fördern und damit eben auch eine nachhaltige Soziale Sicherung. Die Grundsicherung solle die gesetzliche Rentenversicherung bieten; sie solle gewährleisten, dass niemand in Not gerate. Aber jeder sollte daran mitwirken, auch die Unternehmen, dass soziale Sicherung solide aufgebaut und finanzierbar werde.

Jeder, der die Entwicklung von damals bis zur Gegenwart kennt, weiß, dass die betriebliche Altersversorgung zurückgefahren worden ist, je stärker die Rentenversicherung ausgebaut wurde, und die Beteuerungen der Politik, die Renten seien sicher, dazu ermutigten, die private Altersvorsorge allenfalls als Zubrot zu verstehen. Doch inzwischen, meine Damen und Herren, dämmert die große Weisheit herauf, dass es so nicht mehr weitergeht. Wie stark die Familien mit staatlichem Zutun belastet werden, hat sich herumgesprochen. Das Bundesverfassungsgericht will, dass Familien diese Ungerechtigkeit nicht weiter durchstehen müssen. Und daher müssen wir uns wieder auf alte Weisheiten besinnen und darüber nachdenken, wie es möglich wird, Altersversorgung zu gewährleisten unter Mitwirkung der Unternehmen und - natürlich - unter Einbeziehung von Sparleistungen der Familienhaushalte.

Das aber ist der Kern der sogenannten Drei-Säulen-Theorie, von deren Grundbedeutung – wie wir gerade sahen – Mitte der 60er Jahre längst die Rede war. Deren familienwissenschaftlich bedeutendes Defizit besteht allein darin, dass (auch) seinerzeit nicht gesehen und explizit diskutiert worden ist, wie sehr diese 3-Säulen-Theorie auf einem schwachen Boden steht, so lange über die vierte, die entscheidende 4. Säule der Altersvorsorge nicht geredet wird, die Notwendigkeit, Sorge zu tragen für das Nachwachsen der Folge-Generationen. Ohne die gesellschaftliche Investition in die nachwachsenden Generationen verliert jede menschliche Gemeinschaft ihre Basis und damit ihre Zukunft. - Wer erwirtschaftet die Mittel, die in die Rentenversicherung fließen, wer erwirtschaftet die Mittel, die privat gespart werden oder in den Unternehmen angesammelt werden? Die Gruppe der jeweils Erwerbstätigen. Wer aber zweigt aus den in der Erwerbsarbeit erzielten Einkommen (in Gestalt einer die eigenen Konsummöglichkeiten mindernden, freiwilligen Ersparnis) die Mittel zur Versorgung der Kindergeneration ab und leistet zudem ein Riesenvolumen an Stunden in der Familienarbeit, ohne dafür monetär belohnt zu werden? Das sind nur die Eltern in der Gruppe der Erwerbstätigen und zudem diejenigen, die Elternarbeit wegen der damit verbundenen hohen Verantwortung als nicht delegierbar ansehen. Ohne sie, ohne ihre Leistungen für die nachwachsende Generation entsteht die die Gesellschaft bewahrende 4. Säule nicht. Die Säule der Humanvermögensbildung ist deshalb die für die Zukunftssicherung tragende Säule, weil mit der Humanvermögensbildung über die Existenz der Menschen in unserer Gesellschaft mit all ihren Qualifikationen und Wertmustern entschieden wird.

Wer das nicht sieht, kann auch die Gründe nicht verstehen, die gegenwärtig zu Reformstaus und zu Reformblockaden in der Gesellschaftspolitik und nicht allein in der Familienpolitik führen. Deshalb ist der Gesetzgeber auch meines Erachtens oft so hilflos. Wir haben es eben zu zeigen versucht, die Voraussetzung alles dessen, was in den Familien an Zukunft entsteht, hängt grundlegend ab von der Qualifikation und dem Engagement von Eltern und von der Verfügbarkeit von Mitteln, die diese einsetzen können, um ihre Kinder zu qualifizieren für die Welt, in die sie hineingeboren werden. Erneut sei betont: Wo entsteht dieses Humanvermögen? Nur in den Familien. Die Familie ist die Quelle dessen, was gesellschaftliche Zukunft darstellt. Doch wie steht es um die Familien in dieser unserer Gesellschaft? Sie sind konfrontiert mit einer „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ ihnen gegenüber. Die strukturellen Rahmenbedingungen der Rentenversicherung führen zur Transferausbeutung, die Inflexibilitäten des Arbeitsmarktes zur mangelnden Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit, das obrigkeitliche Lenkungsmuster beschert uns Probleme im Schulsektor. Unsere Familien müssen schon ganz schön stabil sein, um all das und manches andere mehr auszuhalten.

Nicht die Kollektivierung von Sozialleistungen, sondern die Stärkung der Vermögens- und Entscheidungspotentiale in den Familien sollte das Leitbild für die Schaffung von Wohlstand für alle durch „Vermögen für alle“ sein. Nur ein Stichwort sei genannt zur Einschätzung der Debatte über die gesellschaftliche Notwendigkeit der Kollektivierung von Sozialleistungen in den 60er und in den 70er Jahren. Ich sehe schon, einige von Ihnen kommen aus der Altersgruppe, die das noch miterlebt hat, und wissen, wie damals der Slogan lanciert wurde vom privaten Reichtum und der staatlichen Armut. Er legitimierte die These von der notwendigen Umverteilung von den Privaten zum Staat ! Heute verordnet man den Familien zur Entlastung der Rentenkassen die private Vermögensbildung zur Altersvorsorge. Doch wie sollen sie diese aufbauen, wenn es keine hinreichenden Überschüsse der Einkommen über die Ausgaben in den Familien gibt? Die Entlastung von Familien von steuerlichen Abgaben, die ihnen der Staat bislang verfassungswidrig aufbürdete, wird nicht zu Unrecht von Kennern der Materie als „Rückgabe von Diebesgut“ bezeichnet. Für die Transferausbeutung müsste ähnliches gesagt werden. Doch welcher Staat gibt das an Vermögen, was er den Familienhaushalten - verfassungswidrig - einmal abgenommen hat, wieder zurück? Staatsvermögen, das „unrecht“ angehäuft ist, sollte doch wohl von den „unfreiwilligen Spendern“ zurückgefordert werden können. Wer solches für eine Utopie hält, darf für sich Realitätsbewusstsein in Anspruch nehmen. Seine Sensibilität für staatliche Gerechtigkeit gegenüber Familien bleibt gleichwohl schwach. Nur durch die Veränderung etablierter Denkmuster lassen sich Realitäten verändern. Es dürfte doch an sich nicht sein, dass der Staat das Vermögen, das er besitzt, nach eigenem Gutdünken veräußern kann, obwohl er Teile dieses Vermögens von den Familien - wie das Bundesverfassungsgericht moniert hat - unrechtmäßig erworben hat.

Zum Abschluss folgen noch einige Bemerkungen über die Elemente und die Folgen der Fehlkonstruktion des Systems der Sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland.

 

3.2. Die Aufkündigung der Solidarität im Institutionalisierungsprozess der Altersversorgungssysteme.

Überall wird von der Solidarität der Generationen gesprochen. Sie sei notwendig, sie sei überlebensnotwendig, sie sei gesellschaftlich unabdingbar. Doch wie steht es um die Solidarität der Gesellschaft mit ihren Familien? Ist sie nicht angesichts schon der folgenden Tatbestände, die nicht einmal alle Verstöße auflisten, bereits weitgehend aufgekündigt worden? „Transferausbeutung“ / Freiwillige ( gewählte ) Kinderlosigkeit / Einkommensdefizite bei Elternschaft als Verstoß gegen die „horizontale Gerechtigkeit“ / Verzicht auf die Einführung einer „Kinderrente“ als Grundelement des Rentensystems.

Über Transferausbeutung haben wir schon gesprochen, sie ist eine unmittelbare Folge dessen, dass trotz ihres hohen gesellschaftlichen Stellenwertes die Familienarbeit unentgeltlich geleistet wird. Wenn eine angemessene gesellschaftliche Entlohnung ausbleibt, wenn die Leistung für die nachwachsende Generation viele materielle und immaterielle Nachteile nach sich zieht, wäre dann nicht ein steigendes Maß an freiwilliger, also bewusst gewählter Kinderlosigkeit zu erwarten? Ist dann aber tatsächlich die daraus folgende Gestalt der Bevölkerungspyramide für die gesetzlich erzwungene „Solidargemeinschaft“ des Rentensystems belanglos? Natürlich verändert sie sich durch die Entscheidungen über die Zahl der Geburten. Wie sieht eine Bevölkerungspyramide aus, die die Versorgung der alternden Menschen als leicht erscheinen lässt ?

 

siehe Abbildung: Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur bis zur Gegenwart

1910 gab es das folgende Bild: Wie schön hätte hier ein Umlageverfahren funktionieren können. Ebenso deutlich zeigt das empirische Material, was an Herausforderungen in Zukunft auf uns wartet. Sichtbar wird eine nahezu vollständige Umkehr der Pyramide mit einer Lastenverteilung, die uns noch lange schmerzen wird. Im Vergleich der gegenwärtigen Situation mit der Zeit bis zu Erhards Sturz halbierte sich nahezu die Geburtenzahl. Sollte man nicht doch zu einer auf Vermögensbildung in den Familien ausgerichteten familienpolitischen Konzeption zurückfinden? Doch der Hauptskandal resultiert aus der Tatsache, dass drohende „Rentenberge“ gut prognostizierbar sind, die Politik ihre zu erwartende Existenz jedoch ebenso ignorierte wie die Kenntnis dessen, dass sich Geburtenzahlen wesentlich weniger verlässlich prognostizieren lassen. Spätestens seit Mitte der 60er Jahre gab es eindringliche Warnungen kompetenter Wissenschaftler.

Ebenso sinnlos ist es, wenn die praktische Politik den Eindruck entstehen lässt, sie verlange einen Verzicht auf gleiche Lebenschancen innerhalb der jeweils erreichten gesellschaftlichen Schicht als Folge von Elternschaft. Den Nicht-Verzicht fordert die Finanzwissenschaft mit dem Begriff der „horizontalen Gerechtigkeit“ ein.

Der hier relevante Grundtatbestand wurde ebenfalls schon frühzeitig, in den fünfziger Jahren, als einschlägiges Problem thematisiert. Es spiegelt sich sehr deutlich in den Ergebnissen einer Studie von Helga Schmucker über die Möglichkeiten der Ersparnisbildung bei Kinderlosen und den Zwang zum Vermögensverzehr während der Elternschaft in den Familien jener Zeit wieder.

 

Dort wird über Einnahmen- und Ausgabenüberschüsse in den verschiedenen Phasen des Lebenszyklus einer Familie, die bereits in ein tragfähiges System der Sozialen Sicherung eingebettet ist, in typisierender Form berichtet. Dabei zeigt sich, dass das herrschende Sicherungssystem mit einem Strukturfehler behaftet ist, der die Lebenslage von Familie massiv beeinträchtigt. Die Phase des Zusammenlebens mit Kindern ist deutlich stärker mit einem Verschuldungsrisiko belastet als die Altersphase, in der ein Renteneinkommen meist wieder allein einem Paar zu Gute kommt. - Helga Schmucker sprach in diesem Kontext von "Bedrängniszonen", in die Familien wegen ihrer Bereitschaft zum Kind geraten. Diese heute zunehmend wieder als potentielle „Armutszone in Familien“ bezeichnete Bedrängniszone aufzuheben ist eine zentrale Aufgabe moderner Familienpolitik.

Trotz der bereits genannten familienbezogenen Fortschritte in den 6oer Jahren blieb dieses Problem längerfristig ungelöst. Die Politik entschied sich stattdessen eher gegenläufig für die Strategie der Schließung der - wie das Schmucker-Schema unmissverständlich zu erkennen gibt - versorgungspolitisch gesehen deutlich nachrangigeren Lücke in der Altersversorgung. Empirisch gesehen ist das Problem heute nicht weniger relevant als in den fünfziger Jahren. Neueste Ergebnisse bestätigen nachdrücklich die aus ihrer Entscheidung für Kinder resultierende massive Verschlechterung der relativen Wohlstandsposition von Eltern im Vergleich zu Kinderlosen. Immer häufiger ist die Rede von „Familienarmut in einer Wohlstandsgesellschaft“.

Schon bei einem absoluten Vergleich der (analog zu den Regelsätzen der Sozialhilfe) nach dem Bedarf gewichteten durchschnittlichen monatlichen Pro-Kopf-Einkommen zeigte eine Studie aus dem Jahr 1996 die Einkommensschwächung durch Familie: "Das Pro-Kopf-Einkommen von kinderlosen Paaren beträgt im Durchschnitt monatlich 1.954 DM, das von Ehepaaren mit Kindern liegt mit 1.536 DM um 21% darunter. Eltern und ihre Kinder haben somit pro Kopf monatlich rund 400 DM weniger zur Verfügung als kinderlose Ehegatten" (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg).

Diese Einkommensdiskrepanz wird jedoch noch dramatischer, wenn zwischen Phasenabschnitten des Familienlebens wie z.B. der Gründungs-, Aufbau- und Stabilisierungsphase unterschieden wird: "Die Einkommensungleichheit ist (nämlich) in bestimmten Familienphasen erheblich größer. So verfügen kinderlose Ehepaare in der Gründungsphase mit 2.437 DM über ein rund 1.000 DM höheres Pro-Kopf-Einkommen als Eltern und ihre Kinder (1.426 DM). Entgegen weit verbreiteter Ansicht ist das Einkommensgefälle jedoch nicht bei jungen Ehepaaren mit Kindern am größten, sondern nimmt im Laufe der Familienentwicklung noch zu. Mit 1.400 DM ist der Einkommensunterschied am stärksten, wenn die Familie ihre endgültige Kinderzahl erreicht hat und vor allem Schulkinder im Alter von 6 bis unter 15 Jahren in der Familie leben. In dieser Phase verfügen Eltern und ihre Kinder über ein Pro-Kopf-Einkommen (1.328 DM), das nur halb so hoch ist wie das von kinderlosen Ehegatten (2.756 DM). Erst in späteren Familienphasen verringern sich die „Einkommensunterschiede". Nicht uninteressant ist der Bezug zum Betrag von DM 1.300, der in den Vorschlägen zur Höhe des "Erziehungsgehalts" eine zentrale Rolle spielt. Diese Studie (und nicht nur sie) bestätigt sehr eindrucksvoll die Erkenntnis, dass Ehepaare mit Kindern sehr viel häufiger als kinderlose Paare in wirtschaftliche Bedrängniszonen geraten. In der Stabilisierungsphase beläuft sich der Anteil von hoch belasteten Familien an der Gesamtheit auf 15,3 %.

Unübersehbar zeigen sich allerorten die Folgen dessen, was wir oben im Abschnitt 2. kritisierten: der Abkoppelung der Familienpolitik von der Politik der Sozialen Sicherung. Als das gravierendste Versäumnis stellt sich im Nachhinein wohl der Verzicht auf die Einbeziehung der Kinderrente in das Rentensystem dar. Als das Grundmuster für die Einführung des Systems der „dynamischen Rente“ von Wilfrid Schreiber entwickelt wurde, war es von vornherein als ein Drei-Generationen-Konzept angelegt worden. Da gab es zunächst die Gruppe der Kinder, die noch kein Einkommen erzielten, aber unterhalten werden mussten. Darauf folgte die Gruppe der Erwerbstätigen, die Erwerbseinkommen erzielten. Und dann war noch an die Gruppe derjenigen zu denken, die nicht mehr erwerbstätig waren, aber gleichwohl versorgt werden mussten. Die Frage, die Wilfrid Schreiber, ein prominenter Vertreter der katholischen Soziallehre, aufwarf, lautete ganz einfach: Wie verteilen wir das Volkseinkommen gerecht auf alle Generationen, wenn sich die Grundprobleme des Umgangs mit den Familieneinkommen wie folgt darstellen (siehe erneut Abb. 2): Man müsste ansparen, um sich Familien leisten zu können. Erst mit dem Ausscheiden der Kinder aus der Familie sind Überschüsse zu erwarten, die dazu dienen können, etwaige Schulden, die man aufnehmen musste wegen der „Kinderkosten“, abzutragen. Allerdings ist zudem der Bedarf in der Altersphase zu decken.

Um die Lösungsidee von Schreiber verstehen zu können, ist vor allem zu klären, was Generationen-Solidarität für eine Gesellschaft bedeutet. Hier gilt es, grobe Missverständnisse auszuräumen. Zum einen geht es nicht um Erwägungen über den Abschluss eines "Vertrags" zwischen unterschiedlichen Generationen. Natürlich kann auch ein Gesetzgeber nicht mit einer noch nicht geschäftsfähigen Generation von Kindern und schon gar nicht mit noch nicht Geborenen Verträge schließen. Er kann allerdings Gesetze zu einer vorsorglichen „Sicherung der Solidarität zwischen den Generationen“ erlassen, die Pflichten zur Übernahme von Lasten für die nachwachsende Generation begründen. Er kann allerdings nur dann Gerechtigkeit für diese Entscheidung in Anspruch nehmen, wenn er zugleich dieser nachwachsenden Generation Rechte einräumt. Dazu zählt vorrangig das Recht, unter Bedingungen aufzuwachsen, die Chancen für ein gelingendes Leben begründen. Es geht dabei um die Schaffung gesellschaftlicher Voraussetzungen dafür, dass junge Menschen befähigt werden, ein menschliches Handlungspotential aufzubauen, das ihnen eine vollwertige Partizipation an allen gesellschaftlichen Prozessen ermöglicht und deshalb zu Recht heute als Humanvermögen bezeichnet wird. Dazu gehört nicht zuletzt, dass die Menschen, auf deren Zuwendung die Heranwachsenden in ihren ersten Lebensjahren unwiderruflich angewiesen sind, über die Ressourcen als Hilfsmittel verfügen können, die für einen solchen „gelingenden“ Sozialisationsprozess notwendig sind. Das ist die entscheidende familienpolitische Aufgabe, - und Schreibers Lösungsvorschlag ist nach wie vor vernünftig begründet. Er meint, jeder Mensch müsste von vornherein wissen, dass wer alt wird, eine Vorsorge für die Versorgung in diesem Alter zu treffen hat, - ihm bietet sich ein Leben lang die Gelegenheit, diese Vorsorge - auch unter Bezugnahme auf staatliche Unterstützung - zu treffen. Kinder, die ohne jegliche persönliche Ressourcen in unsere und ihre Welt geboren werden, sind zunächst völlig darauf angewiesen, dass sie umsorgende Menschen, ein Heim und ein angemessenener Unterhalt für sie bereitstehen. Deshalb sollte es eine „Kinderrente“ geben. Mit ihr bietet die Gesellschaft den Kindern einen „Vorschuss“ an, und es ist gerecht, wenn diese diesen „Kredit“, der ihnen eingeräumt wurde, abtragen, in dem sie ihre Eltern im Alter versorgen. Damit erfüllen sie zwar nur die Hälfte des „Generationenvertrages“, denn wie diese, die gleichzeitig für ihre Eltern zu sorgen hatten und zugleich für ihre Kinder, müssen auch sie bereit sein, sowohl die „Tilgungsleistungen“ als auch die investive Leistung, die „Investition in das Humanvermögen der nachwachsenden Generation“ zu erbringen. Nicht die Tilgung einer „Schuld“ durch die Entrichtung von Beiträgen in die Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren, sondern die „Investition in das Humanvermögen“, die Bereitschaft, sich für Kinder zu entscheiden, ist die Leistung, die Zukunft ermöglicht.

Familie stellt sich stets als „Schicksalsgemeinschaft“ dar. Das gilt gleichfalls für eine Gesellschaft, die sich als solche versteht. Ob sich die Gesellschaft darüber hinaus der Lösung der Frage nach einer Begründung von "Solidargemeinschaften" in dieser Gesellschaft gewachsen zeigt, wird über ihre Zukunft entscheiden. Dass für die Durchsetzung dieser Einsicht offensichtlich noch viel Aufwand nötig ist, führt zu beklagenswerten politischen Handlungsschwächen. Bis zu deren Bewältigung müssen wohl alle auf die „außerordentliche Widerstandsfähigkeit“ vertrauen, die Familien in den Wirren der Geschichte bewiesen haben, wie einer meiner Lehrer, der weltweit bekannte Familiensoziologe René König, ebenfalls bereits vor einigen Jahrzehnten formulierte. Doch auch Familien sind nicht beliebig belastbar. Wenn sie zudem die Hüter der Verfassung auf ihrer Seite wissen, werden sie einen stetigen Abbau jener „strukturellen Ungerechtigkeiten“ verlangen, die Elternschaft diskriminieren!

 

Quellenangaben:

Hans-Günter Krüsselberg, Michael Auge, Manfred Hilzenbecher: Verhaltenshypothesen und Familienzeitbudgets - Die Ansatzpunkte der "Neuen Haushaltsökonomik" für Familienpolitik. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1986 (Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Band 182).

Bundesministerium für Familie und Senioren (Hg.). Familien und Familienpolitik im geeintenDeutschland - Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht. Bonn 1994.

Hans-Günter Krüsselberg. Ethik, Vermögen und Familie - Quellen des Wohlstands in einer menschenwürdigen Ordnung - (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 56). Stuttgart 1997.