Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Huber

10. Berliner Theologisches Gespräch

„Der Import von embryonalen Stammzellen.
Eine Debatte kurz vor der Entscheidung des Deutschen Bundestages“

am 29.01.2002 im Konrad-Adenauer-Haus, Berlin

Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Huber,
Bischof der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg

Herrn Kempermann höre ich immer mit besonderer Spannung zu, weil ich jedes Mal zumindest für kurze Zeit das Gefühl habe, ich hätte die komplizierten Sachverhalte, um die es geht, wieder ein Stück besser verstanden. Aber ich höre ihm auch deswegen so gern zu, weil er für mich ein sehr eindruckvolles Beispiel für einen Forscher ist, dem man abspürt, dass man die Ethik nicht von außen an ihn herantragen muss, sondern dass er bei seiner Forschung an vorderster Front auch immer ethische Fragestellungen mit im Blick hat und mitthematisiert. Ich sage das am Anfang, weil es für mich ganz entscheidend ist, dass wir in der Diskussion nicht von einer Gegenüberstellung einer vermeintlich unethischen Forschung auf der einen Seite und einer von Kenntnissen der Forschung relativ unberührten Ethik auf der anderen Seite ausgehen. Es geht darum, beide Gesichtspunkte aufeinander zu beziehen; und es ist immer besonders überzeugend, wenn man diese Bezugnahme auch bei ein und der- selben Person beobachten kann. Deswegen bin ich froh darüber, ausgerechnet am heutigen Abend mit Herrn Kempermann wieder im Gespräch zu sein und nicht nur meine persönlichen Glückwünsche zu seiner Habilitation am heutigen Tag auszudrücken, sondern auch meinen persönlichen Respekt, der sich bei mir schon seit langem entwickelt hat.

Ich will in der Reaktion auf das, was Herr Kempermann gesagt hat, und um der Kürze der Zeit willen Ihnen nicht ein ausgefeiltes zweites Referat von vergleichbarer Länge vortragen, sondern ein paar Gesichtspunkte nennen, die mir in der Reaktion auf das, was Herr Kempermann gesagt hat, besonders wichtig erscheinen.

Die erste Frage heißt: Wieso beschäftigt sich ein Theologe und wieso beschäftigt sich die Kirche mit diesem hoch spezialisierten Themenfeld? Wieso haben wir uns in den letzten zwölf Monaten darum bemüht, Stellungnahmen dazu zu erarbeiten und auch öffentlich zu vertreten?

Dies geschieht nicht deswegen, weil die Gentechnologie in einem unmittelbaren Sinn in der Bibel vorkäme. Das bleibt wahr, obwohl Margot von Renesse zu meiner großen Verblüffung, wie man dem heutigen „Tagesspiegel“ entnehmen kann, die Gentechnik-Stelle im Neuen Testament entdeckt hat. Sie findet diese Gentechnikstelle in Matthäus 11, nämlich dort, wo Johannes der Täufer Jesus fragen lässt, ob er derjenige sei, der da kommen soll oder ob „wir eines anderen warten“ müssen. Die Antwort Jesu heißt bekanntlich: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzigwerden rein und Taube hören, Tote stehen auf , und Armen wird das Evangelische gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“. Margot von Renesse fügt hinzu: „Ganz ohne Stammzellen natürlich; aber offensichtlich ist dort eine ethische Aura um den Heilungsvorgang gelegt“. Man muss hier genauer hinschauen: Es geht nicht um eine ethische Aura um den Heilungsvorgang, sondern um die Gegenwart des Messias. Ich bin jedoch immer dann erleichtert, wenn man die gegenwärtige Entwicklung von Stammzellforschung von messianischen Erwartungen befreit. Von denen sind sie gelegentlich umgeben; denn wir haben einen Diskussionsstrang, der zu meiner großen Erleichterung in Berlin nicht repräsentiert ist, der mit der Entwicklung der Gentechnologie die Vorstellung von einer Optimierung des Menschen verbindet; einer gentechnischen Optimierung des Menschen. Peter Sloterdijk hat diese Vorstellung ausdrücklich in die Diskussion eingeführt. Wir bewegen uns, so sagt er, auf eine Situation zu, die eine neue Zweiteilung der Menschheit zur Folge haben wird, dann aber nicht einfach in Freie und Sklaven oder in Reiche und Arme, sondern in Optimierte und Nichtoptimierte. Ich halte mich dabei nicht lange auf, weil ich finde, dass man solche verfehlten Perspektiven nicht zum Hauptthema seiner Betrachtungen machen soll. Aber man muss doch kurz darauf aufmerksam machen, dass zu den scheinmessianischen Erwartungen, mit denen die Entwicklung der Gentechnik verbunden ist, auch die gehört, die von einer Optimierung des Menschen redet. Wenn es dazu kommt, wird zu den Folgen gehören, dass Kinder gegen ihre Eltern klagen werden, wenn die Eltern die Optimierung unterlassen haben; was wir als Diskussion über wrongful birth in Amerika bereits haben, was in Ansätzen auch in Frankreich schon geschehen ist, würde dann weiter gehen.

Man sieht an diesem Beispiel, und man sieht genauso an der differenzierteren - von solchen Erwartungen befreiten – Diskussion über die Frage, was wir mit Stammzellen machen dürfen und was nicht, dass Grundfragen unseres Menschenbildes und unserer Vorstellungen vom Menschsein in dieser Debatte auf dem Spiel stehen. Der Bioethik-Kongress der Evangelischen Kirche in Deutschland, der am 28. und 29. Januar 2002 in Berlin stattgefunden hat, hat die ganze erste Arbeitseinheit der Frage nach dem christlichen Menschenbild gewidmet. Eberhard Jüngel hat es aus theologischer, Eckhard Nagel aus ärztlicher Sicht dargestellt und ich weise ausdrücklich darauf hin, dass es ein Spezifikum einer evangelischen Betrachtungsweise ist, die ich bei manchen Veranstaltungen dieser Art vermisse, dass die ärztliche Sicht darauf die gleiche Berechtigung und Dignität, wie die theologische Sicht hat. Es gibt nicht einen Erkenntnisvorsprung von uns Theologen. Es gibt auch nicht eine höhere Weise des kirchlichen Amtes in solchen Fragen, sondern es ist gut evangelisch, die Expertise, die Erfahrung, die berufliche und persönliche Kompetenz von Christenmenschen in verschiedenen Verantwortungsfeldern in gleicher Gewichtigkeit in eine solche Frage einzubeziehen.

Was ist der Mensch? Die einfachste und kürzeste Antwort darauf aus christlicher Sicht heißt: Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Dass wir es mit einem Menschen zu tun haben, zeigen wir nicht einfach an dieser oder jener Substanz, die ihn auszeichnet, und auch nicht einfach an seiner genetischen Ausstattung. Er ist ein von Gott angesprochenes und darauf antwortendes Wesen; er führt sein Leben in Beziehungen zu anderen Menschen, tritt in Beziehung zu seiner sozialen und natürlichen Umwelt tritt und hat die Fähigkeit, in eine Beziehung zu sich selbst zu treten. Dann aber heißt die Frage: Kann man eigentlich definieren, wann dieses menschliche Leben anfängt und wann es aufhört?

Damit komme ich zu der zweiten Frage, die ich ansprechen will. Herr Kempermann hat gesagt, wir befänden uns in einem ethischen Dilemma und hat die Frage aufgeworfen, ob es Möglichkeiten gibt, diesem ethischen Dilemma zu entgehen oder es doch zu umgehen. Worin besteht eigentlich das ethische Dilemma?

Wir befinden uns in einer Situation, in der ethisch hochwertige, hochrangige Prinzipien zu einander in Widerspruch zu treten scheinen. Wir haben einerseits die Heilungshoffnungen, die intensiv mit der Stammzellforschung verbunden werden. Die Tatsache, dass Herr Kempermann zur Vorsicht mahnt, ändert ja nichts daran, dass diese Heilungshoffnungen in die Debatte mit größter Intensität eingebracht werden. Jeder, der sich auch nur einem bestimmten Typus der Stammzellforschung verweigert oder sagt: „Der Weg, der hier beschritten werden soll, ist problematisch“, wird mit der Gegenfrage konfrontiert: „Wenn diese Forschung im Ausland zum Erfolg führt, wird sie dann in unserem Land angewandt werden oder nicht?“

Als ob das Möglichkeitsurteil, dass Forschung mit ethisch problematischen Mitteln zu Resultaten führt, die Zweifel an diesen Mitteln aufheben könnte. Man kann ja nicht sagen, je intensiver die Heilungshoffnung sei, desto skrupelloser könne man in der Wahl der Mittel sein. Das kann man nicht sagen; aber die Heilungshoffnung ist da.

Das zweite vergleichbar hochrangige Gut ist die Forschungsfreiheit. Über ihren Rang in unserer Verfassungsordnung will ich jetzt nichts sagen, sondern nur auf den hohen Rang hinweisen, den das forschende Tun für den christlichen Glauben hat. Die Unterscheidung zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung ist gerade eine Einladung und eine Ermunterung dazu, das Erforschbare an der Schöpfung auch tatsächlich zu erforschen. Mit welchen Grenzen sind Forschung und Forschungsfreiheit konfrontiert?

Wir haben als drittes den hohen Rang der Menschenwürde, die auch bei einer sehr engen Definition sagt, dass die Menschenwürde es verbietet, einen Menschen bloß als Mittel und nicht zugleich als einen Zweck in sich selbst zu betrachten. Wann fängt die Menschenwürde an? Wie weit erstreckt sich der Schutzbereich der Menschenwürde? Gibt es Phasen des vorgeburtlichen Lebens, die davon nicht erfasst sind?

Und wir haben viertens davon zu unterscheiden: den Lebensschutz, der ein sehr hohes Gut ist, auch wenn er nicht, wie manche sagen, unbedingt und absolut gilt, weil es Extremsituationen des Abwägensvon Leben gegen Leben gibt, die sogar die Einschränkung des Lebensschutzes eröffnen damit Leben gerettet werden kann. Wieder und noch einmal zugespitzt stellt sich die Frage: Gibt es Phasen in der Entwicklung des vorgeburtlichen Lebens, die von diesem Lebensschutz schlechterdings nicht berührt werden? Diese Frage hat sich zugespitzt, seit, zunächst vor allem durch die britische Diskussion ausgelöst, die Auffassung vertreten wird, die ersten vierzehn Tage in der Entwicklung des menschlichen Embryo seien von einem solchen Schutz frei oder genössen einen solchen Schutz in geringerem Maß, so dass die verbrauchende Embryonenforschung in den Bereich des ethisch und rechtlich Vertretbaren treten könne. Damit - und an diesem Punkt waren wir in meiner Überlegung schon an einer früheren Stelle - stellt sich die Frage, auf die ich mich in den nächsten Überlegungen konzentrieren möchte: Gibt es Zäsuren in der Entwicklung, des menschlichen Lebens, die wir mit voller Klarheit zum Markstein dafür nehmen können, dass davor keine Würdeattribution und kein Lebensschutz, danach aber die volle Würdeattribution und der volle Lebensschutz zu gewährleisten sind?

Sieben Stufen in der Frühentwicklung des menschlichen Lebens werden zu Anknüpfungspunkten für konkurrierende Antworten auf die Frage, von wann an der Mensch ein Mensch ist. Diese sieben Stufen will ich in aller Kürze probehalber mit Ihnen durchgehen.

Nach der ersten Antwort wird die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle als der entscheidende Punkt angesehen. Auch das ist eine Setzung. Die Reproduktionsmediziner sprechen heute von der Befruchtungskaskade, in der menschliches Leben sich bildet; innerhalb dieser Befruchtungskaskade istder Moment der Verschmelzung eine Setzung. Es gibt gelegentlich auch einen zynischen Gebrauch von dieser im Embryonenschutzgesetz übernommenen Setzung, indem Eizellen, die schon mit der Samenzelle verbunden sind, aber nur im Vorkernstadium, eingefroren werden, weil sie von den Bestimmungen des Embryonenschutzgesetzes noch nicht betroffen sind. Insofern ist es eine relative, aber doch in sich plausible Feststellung, wenn gesagt wird, mit der Verschmelzung beginne eine neue biologische Realität mit einem eigenen Steuerungssystem und Lebensprinzip. Das genetische Programm, aus dem sich dieses Lebewesen entwickelt, ist vollständig gegeben. Also ist mit diesem Anfang ein vollständiges, in diesem Sinn auch individuelles menschliches Leben gesetzt. Wer so argumentiert, behauptet übrigens nicht, dass der Mensch identisch sei mit seinen Genen. Es handelt sich ist nicht um eine Reduzierung des Menschseins auf die genetische Ausstattung. Es geht um die Suche nach einer relativ willkürarmen Zäsur, von der man die Zuschreibung bestimmter Rechte abhängig macht.

Eine zweite Betrachtungsweise lässt das menschliche Leben mit der Einnistung in der Gebärmutter um den 5. bis 8. Tag beginnen. Schon die ungenaue Zeitangabe deutet darauf hin, dass die Nidation selbst einen Prozess und nicht eine scharfe Zäsur darstellt. Auch schon vor der Nidation wird das befruchtete Ei von der Mutter ernährt. Die hormonelle Umstellung der Mutter kommt in Gang. Die Verbindung mit dem mütterlichen Organismus ist für die Entwicklung des Embryos unersetzlich. Aber die Übertragung dieser Einsicht auf die Definition einer Zäsur ist in meinen Augen mit einem erheblichen Willkürrisiko verbunden.

Als dritter Anhaltspunkt wird gelegentlich der Zeitpunkt genannt, zu dem die Möglichkeit einer Mehrlingsbildung ausgeschlossen ist, ungefähr nach dem 13. Tag der embryonalen Entwicklung. Insofern verbindet sich dieses Argument insbesondere mit der vorhin schon genannten britischen Entscheidung. Zur Begründung wird vorgebracht: Von menschlichem Leben im Sinne eines individuellen Lebens vermöge man erst dann zu sprechen, wenn dieses Leben sich nicht mehr in mehrere Leben teilen könne. Individualität bedeute Unteilbarkeit. Dagegen muss man in meinen Augen einwenden, dass eine solche Überlegung Individualität mit Singularität verwechselt. Außerdem muss man fragen, ob ein menschliches Leben, aus dem sich mehrere Individuen entwickeln können, eigentlich mit einem geringeren ontologischen Status ausgestattet werden soll, als die daraus hervorgehenden Individuen selbst.

Eine vierte im Anschluss an die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch sehr verbreitete Überlegung legt den Beginn menschlichen Lebens an das Ende des dritten Schwangerschaftsmonats, in dem sich die neuronalen Strukturen ausbilden. Das ist eine Überlegung, die auf viele auch deswegen eine besondere Anziehungskraft ausübt, weil man plötzlich eine Entsprechung zwischen der Hirntod-These und einer Hirnleben-These zu sehen meint. Im einen wie im anderen Fall muss man sich fragen, ob dabei nicht ein sehr voraussetzungsreiches, nämlich kognitivistisches Menschenbild leitend ist. Erst, wenn die Gehirnstrukturen sich ausbilden, reden wir nach einer solchen Auffassung vom Menschen.

Eine fünfte Auffassung orientiert sich an der Vorstellung der selbständigen Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs. Derjenige Zeitpunkt soll also gelten, in dem der Fötus im Fall der Frühgeburt außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre. Das freilich ist eine sehr schwankende Angabe.

Eine sechste Auskunft sagt, um Volker Gerhard zu zitieren: „Der Mensch wird geboren“. Das ist wohl wahr, deshalb hat jemand in diesen Tagen gesagt - es kam mir etwas zynisch vor - noch heute würde doch der Geburtstag gefeiert und nicht der Tag der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Aber im Blick auf den vorgeburtlichen Lebensschutz läuft diese Aussage ins Leere.

Man muss sich auch klarmachen, dass es noch eine siebte Position gibt, die keineswegs von mir erfunden ist. Sie geht nämlich von der Vorstellung der Selbstbestimmung des Menschen aus und sagt: Von einer menschlichen Person, der wir in vollem Umfang Rechte zu schreiben, können wir erst sprechen, wenn wir es mit der Möglichkeit der Selbstbestimmung zu tun haben, also irgendwann im Lauf der ersten Lebensjahre.

Ich lasse einmal das ganze Spektrum dieser Möglichkeiten vor Ihren Augen vorbeiziehen, damit Sie merken, was ich meine, wenn ich sage: Es gibt Grenzziehungen und Zäsuren, die mit einem hohen Willkürrisiko verbunden sind. Die These von der Nidation als Grenze gehört in meinen Augen dazu.

Das geschilderte Willkürrisiko macht es in meinen Augen unmöglich, in der gegenwärtigen Debatte einfach drei Positionen als ethisch gleichgewichtig nebeneinander zu stellen, wie das in einer Stellungnahme evangelischer Ethiker geschehen ist, die vor wenigen Tagen in der FAZ veröffentlicht wurde. Der unbedingte Schutz des Embryos, der abgestufte Embryonenschutz mit engen Grenzziehungen und schließlich die uneingeschränkte Möglichkeit der Forschung an frühen Embryonengelten als diese drei gleichberechtigten Positionen. Das Willkürrisiko einer solchen Betrachtungsweise zeigt sich übrigens schon darin, dass die zweite Position an die Nidation als Zäsur für einen abgestuften Embryonenschutz gebunden wird, diese aber wird etwa um den 14. Tag nach der Befruchtung datiert und mit dem Ausschluss der Mehrlingsbildung gleichgesetzt. Embryologisch sind das aber eindeutig zwei verschiedene Stufen.

Die evangelischen Ethiker plädieren ihrerseits für einen Kompromiss, der Forschung an mehrjährig kryokonservierten Embryonen zulässt, die wegen ihrer eingeschränkten Entwicklungsfähigkeit aus medizinischen Gründen als nicht mehr implantierbar gelten. In meinen Augen ist das keineswegs ein Kompromiss, sondern ein sehr weittragender Vorschlag, da er ein Urteil aus medizinischen Gründen über die eingeschränkte Entwicklungsfähigkeit einschließt. Das ist in meinem Verständnis der Präimplantationsdiagnostik ziemlich nah. Und hinzugefügt wird, die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken sei derzeit nicht zu verfolgen. Eine solche Formulierung lässt klar durchblicken, dass gegen die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken nur pragmatische, nicht aber prinzipielle Einwände gesehen werden. Das zeigt sich auch deutlich in dem abschließenden Appell, eine evangelische Position stehe vor der Aufgabe, „nicht im leicht generalisierbaren Misstrauen gegenüber dem Neuen zu verharren, sondern sich am Aufbau einer Kultur zu beteiligen, die zwar mit Missbrauch rechnet, aber nicht in der Furcht davor erstarrt.“ Das ist richtig: Vor dem Missbrauch soll man weder in Furcht, noch gar in Ehrfurcht erstarren, man soll ihm vielmehr wehren. Das geschieht in der Absicht, dass unter einer Mehrzahl möglicher Wege zum Neuen derjenige gewählt wird, der ethisch am ehesten vertreten werden kann. Man sollte die Suche nach diesem Weg auch nicht mit dem Hinweis auf den evangelischen Pluralismus stillstellen. Im Gegenteil, man sollte die Pluralität evangelischer Positionen für die Suche nach diesem Weg nutzen.

Diese Bemerkung zum Pluralismus setze ich deswegen an den Schluss meiner Überlegungen, weil die Position evangelischer Ethiker, über die ich gerade gesprochen habe, unter der Überschrift: „Pluralismus als Markenzeichen“ veröffentlicht wurde. Gewiss ist die Pluralität evangelischer Positionen ein wichtiger Ausgangspunkt jeder Urteilsbildung; aber sie ist kein Selbstzweck und sie ist nicht in sich selbst schon das sinnvolle Ziel. Wir bringen sie ein, um Klärungen zu finden. Die Gewissensbildung ist im evangelischen Verständnis ein kommunikativer Prozess. Die Aussage, dass jeder in seiner Entscheidung seinem Gewissen verpflichtet sei, bedeutet nicht, dass die Kriterien für diese Gewissenentscheidung der Kommunikation entzogen sind. Sie müssen sich vielmehr in der Kommunikation, im Austausch mit anderen, in der wechselseitigen Prüfung herausbilden und klären.

Deswegen haben wir am 28. und 29. Januar 2002 einen Bioethik-Kongress der EKD durchgeführt. Es ging darum, Argumente auszutauschen und zu wägen. Diejenigen, die für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland an dieser Debatte teilgenommen haben, haben sich am Ende bestätigt gefühlt in ihrer zusammenfassenden Überlegung, dass sie die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bitten, bei ihrer Entscheidung am 30. Januar im Blick zu haben, dass der Schutz menschlichen Lebens von Anfang an ein hohes Gut ist. Das Gut zu wahren ist auch deshalb wichtig, weil wir auch in Zukunft an vielen Stellen vor der Frage stehen werden, ob wir diesem Schutz weiterhin oberste Priorität geben.