Das C als Grundlage und Kompass unserer Politik –
Resolution zur 53. EAK-Bundestagung am 12. Mai 2021
1. Das Verhältnis von Staat und Kirche
Weltverantwortung und Weltgestaltung sind die dem Evangelium gemäßen Kennzeichen unseres christlichen Glaubens. Das gilt sowohl für die seelsorgerlichen und diakonischen beziehungsweise karitativen Dienste der Kirche wie auch - in besonderer Weise - für den politischen Bereich. Die beiden Pole „Kirche“ und „Politik“ sind bei all der klaren Unterschiedlichkeit des jeweiligen Auftrages immer auch grundsätzlich als aufeinander bezogen zu denken. Wo sich diese beiden Pole entweder vollständig zu vermischen oder aber grundsätzlich zu trennen drohen, zeigen sich gleichermaßen Zerrformen des Glaubens wie auch der Politik.
Kirche bildet keine rein ideelle Wirklichkeit ab, sondern stellt stets und überall leibhaftige Gestaltung des Glaubenszeugnisses dar. Sie existiert mithin nur in Gestalt von konfessionellen Kirchentümern und somit in Form von geschichtlich-konkret gewachsenen Sozialgestalten des Christentums. Folglich kann sie auch ihre institutionalisierte Außenseite nicht verleugnen. Somit sind auch die Kirchen ihrerseits – sei es in latenter oder in manifester Weise – durch Irrtum, Schuld, Verweltlichung und Ideologisierung gefährdet. Die Jahrhunderte der Kirchengeschichte haben uns gelehrt, dass es sowohl eine politische Gefährdung der Existenz der Kirchen durch staatlichen Totalitarismus („Gottloser Staat“) gibt als auch eine religiöse Gefährdung des Staates („Gottesstaat auf Erden“) durch ekklesiologische Überhöhung und Verabsolutierung partikularer konfessioneller Herrschaftsansprüche.
2. Die Union als interkonfessionelles Parteienbündnis
Die Entwicklung des Toleranzgedankens, die gewachsene Kultur der ökumenischen Verständigung und die erlangte Einsicht in die Notwendigkeit gemeinsamer, konfessionsübergreifender Handlungsverantwortlichkeiten haben nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Bewusstsein unter Christen aller Konfessionen geschaffen. Wir sind nach den Gräueltaten des Nationalsozialismus, der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und dem totalen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Deutschland zunehmend dafür sensibel geworden, dass auch in die Jahrhunderte durchziehende Auseinandersetzung und in das Ringen um den christlichen Glauben zwischen den Konfessionen ein ideologischer Ungeist dringen kann, der den Wahrheitsanspruch des Evangeliums verdunkeln, verzerren und deformieren kann. Im Zeitalter der Ökumene haben wir gelernt, dass immer dort, wo sich eine ganz bestimmte Gestalt von Religion bzw. Konfession in ihrer historisch-partikularen Konkretisierung absolut zu setzen trachtet, das Evangelium verdunkelt wird.
In dieser historischen Stunde des gesellschaftlichen „Nullpunktes“ entstand in einer Weise, die zuvor undenkbar gewesen wäre, ein gemeinsames Band zwischen römisch-katholischen und evangelischen Christen innerhalb zweier neuer Parteien, der „Christlich-Demokratischen Union“ (CDU) und der „Christlich-Sozialen Union“ (CSU). Es ist keineswegs übertrieben, wenn man darauf hinweist, dass sowohl dieses konfessionsübergreifende, politische Unionsbündnis als auch überhaupt die große Erfolgsgeschichte dieser neuen, jungen Parteien in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland ohne die Einbindung der Minderheitsprotestanten und ohne das damit zusammenhängende Wirken sowie die integrative Kraft des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK) nicht zu Stande gekommen wäre.
Die große politische Aufgabe nach dem Zweiten Weltkrieg bestand hierbei zunächst in der Gewinnung und gleichberechtigten Einbindung evangelischer Christen in die CDU bzw. CSU, die ja von Beginn an ein starkes zahlenmäßiges Übergewicht an Katholiken verzeichneten. Konrad Adenauer, obwohl selbst katholisch, hat sich immer wieder deutlich dafür ausgesprochen. Er erkannte frühzeitig, dass eine tragfähige christdemokratische Politik nur in der Zusammenarbeit von Protestanten und Katholiken wirklich zukunftsfähig sein würde. Das Wirken von Hermann Ehlers, dem Gründervater des EAK, ist hier vor allem richtungsweisend geworden. Der EAK hat sich seit seiner Gründung im Jahre 1952 in beeindruckender Weise um die konsequente Einbindung der evangelischen Christen innerhalb der Union verdient gemacht. Gerade vor dem Hintergrund der Nicht-Selbstverständlichkeit konfessionsübergreifender politischer Zusammenarbeit muss diese Leistung, die keineswegs nur der profanen Logik des politischen Kalküls entstammte, bis heute gewürdigt werden.
Man war sich bei der Gründung der CDU im Juni 1945 zum ersten Male in der deutschen Geschichte – trotz aller konfessioneller Unterschiede – darin einig, dass die neue staatliche Ordnung in Freiheit und Demokratie nur dann gedeihen könne, wenn sie sich auch auf ihre tragenden christlichen Wurzeln besinnen und ihrer dauerhaft versichern würde. Bis heute ist es ein Erfordernis, dass sich in einer sich permanent verändernden Welt Christen über die Grenzen ihrer Konfessionen hinaus ihrer politischen und gesellschaftlichen Verantwortung geschlossen stellen. Geschichte und Gegenwart von CDU und CSU stehen für diese ökumenische Offenheit des konfessionsübergreifenden Miteinanders.
3. Zur Bedeutung des ‚C‘ in der Union
Spätestens seit der Reformation, dieser großen, nicht nur theologie- und kirchengeschichtlich bedeutsamen, sondern vor allem auch geistes-, gesellschafts- und kulturgeschichtlich prägenden Freiheitsbewegung Europas, wissen wir, dass ein wohlverstandener Begriff von „Pluralität“ auch ein unverzichtbares Kennzeichen der Kirche Jesu Christi auf Erden darstellt, die, wie die Alte Kirche noch wusste, immer nur in den konkret verfassten Kirchentümern selbst existiert. Der Streit um die Wahrheit der christlichen Botschaft und die sich daraus ergebene Spaltung der abendländischen Christenheit können nur unkundigen Betrachtern der Geschichte der Reformationszeit als lediglich bedauerlicher „kirchlicher Betriebsunfall“ erscheinen. In Wirklichkeit ist dieser vermeintliche „Betriebsunfall“ lediglich ein (wenn auch gewiss ganz besonderer und folgenreicher) Ausdruck des allgemeinen und grundsätzlichen Streites um die Wahrheit des Christentums überhaupt, so wie ihn alle Zeiten und Generationen in der Nachfolge Christi immer schon auszutragen hatten und immer wieder neu auszutragen haben. Der große Hamburger Theologe Helmut Thielicke hat dies einmal sehr schön im Hinblick auf den Begriff des „Christentums“ selbst veranschaulicht, indem er die ganze Problematik des Ungeklärten offengelegt hat, die bei seinem (nicht selten inflationären) Gebrauch oft mitschwingt:
„Das Wort ‚Christentum’ ist ein unglücklicher Begriff: Es meint nämlich nicht so sehr das Evangelium selbst, sondern es meint den großen Komplex all jener geschichtlichen Erscheinungen, die ‚irgendwie’ in Zusammenhang, und zwar manchmal in einem sehr losen Zusammenhang, mit dem Evangelium in Erscheinung getreten sind. (…) In ihm ist schlechterdings alles vereinigt: Von den Orthodoxen bis zu den liberalen Kulturprotestanten, von der römischen Kirche bis zu den Ernsten Bibelforschern, von der Tiara des Papstes bis zu den höchsten Ketzerhüten, von der ‚Bekennenden Kirche’ im Ghetto bis zum Metropoliten von Moskau.“
Nicht nur vor diesem theologischen Hintergrund war es ein Wagnis, dass die katholischen wie evangelischen Väter und Mütter der „Christlich Demokratischen Union“, im Jahre 1945, also in der Stunde „Null“ und noch inmitten der Trümmerhaufen der tiefsten moralischen und sittlichen Erniedrigung Deutschlands, gemeinsam im Namen Gottes politisch einen Neuanfang gesucht haben. Ein Wagnis, weil es für ein solches Projekt im nach wie vor konfessionszerstrittenen Deutschland überhaupt keine Vorbilder und Anknüpfungspunkte gab. Ein Wagnis vor allem aber auch deswegen, weil man - gleichsam noch im unmittelbaren Angesicht der zerschlagenen, hässlichen Fratze des nationalsozialistischen Totalitarismus - aus „heißer Liebe zum deutschen Volke“, wie es damals im Berliner Gründungsaufruf hieß, freimütig und zuversichtlich bekannte: „Aus dem Chaos von Schuld und Schande, in das uns die Vergottung eines verbrecherischen Abenteuers gestürzt hat, kann eine Ordnung in demokratischer Freiheit nur erstehen, wenn wir uns auf die kulturgestaltenden sittlichen und geistigen Kräfte des Christentums besinnen und diese Kraftquelle unserem Volke immer mehr erschließen.“ Das politische Wagnis gelang: Die Union wurde zur einflussreichsten politischen Kraft in der Bundesrepublik Deutschland. Das Modell der interkonfessionellen Zusammenarbeit von Christen hat sich, so gesehen, parteipolitisch – nach innen wie nach außen – bis heute bewährt.
Nichtsdestotrotz gab und gibt es in der Geschichte von CDU (und CSU) immer wieder - zum Teil heftige und äußerst emotionalisierte - Anfragen und Kritik bezüglich des „C“ im Parteinamen: Kann und darf sich denn eine Partei überhaupt „christlich“ nennen? Bedeutet dieser Name nicht eine unzulässige Vereinnahmung des Christlichen für eine bestimmte Parteipolitik? Verträgt sich der universale Anspruch des christlichen Glaubens mit politischer Parteilichkeit? Und kann man denn als bekennender Christ heutzutage überhaupt noch sein Kreuz bei der Union machen oder ist es nicht vielmehr ein unaufhörliches „Kreuz mit dem C“?
Es gehört zum Eigentümlichen der Geschichte der Union, dass diese Fragen sie seit ihrer Gründung (und genaugenommen schon davor) immer schon begleitet haben. Es gehört aber wohl auch zur Natur der Sache selbst, dass sie sie auch immer begleiten müssen. Gerade dieser letzte Gedanke signalisiert, dass es bei der Frage nach dem „C“ um mehr geht als bloß um die Beschreibung von Prozessen der (politischen) Absegnung der Normativität des Faktischen. Es geht nach Willen und Überzeugung der Gründungsväter und –mütter der Union nämlich um die bewusste Gestaltung des Faktischen durch die selbstverpflichtende Orientierung am Normativen der Evangeliumsbotschaft: CDU und CSU haben in der Tat von Beginn an den Anspruch erhoben, sich als Partei von Christen in konfessionsübergreifendem Sinne in die Politik einzumischen und sie zu gestalten. Dies führte und führt bis heute zu Irritationen, Provokationen und Missverständnissen (von den gezielten oder unbewussten Unterstellungen dabei einmal ganz zu schweigen).
Es ist in diesem Zusammenhang überaus interessant, sich einmal klar zu machen, dass sich Protestanten und Katholiken in den Unionsparteien – ihren unterschiedlichen Denktraditionen und ihrem unterschiedlichen konfessionellen Zugang zur Welt der Politik gemäß – selbstverständlich immer auch der entsprechenden Kritik aus den Reihen ihrer jeweiligen Herkunftskirchen bis heute zu erwehren haben. Hierbei gilt es noch einmal daran zu erinnern, dass bei der Gründung der Union theologische Fragen im engeren Sinne eigentlich gar keine allzu große Rolle gespielt haben. Wie der bereits erwähnte Gründungsaufruf der Berliner CDU zeigt, war es vor allem der oft beschworene „Katakombengeist“ aus der gemeinsamen Erfahrung von Verfolgung und Widerstand, der bekennende Christen aus den beiden großen Konfessionen zur Erkenntnis brachte, dass man zum künftigen Wohle von Freiheit und Demokratie von nun an gemeinsam politisch tätig werden müsste.
Von dezidiert evangelischer Seite aus ist hier (bis heute) vor allem das überkommene grundsätzlich-theologische Misstrauen an einer zu engen Verbindung von Glauben und (Partei-)Politik wirksam. Es gehört zur Ironie der protestantischen Theologiegeschichte, dass ausgerechnet ein so bedeutsamer Theologe wie Karl Barth in einem Atemzug einerseits die sog. „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers ablehnen und andererseits mit Barmen II bekennen konnte, dass Jesus Christus „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ ist. Zeit seines Lebens konnten er und später dann auch seine kirchlich-theologisch einflussreichen Schüler- und Anhängerkreise kein Verständnis dafür aufbringen, dass es genau diesen Anspruch eben auch von Seiten des Protestantismus im parlamentarisch-politischen Alltag durchzusetzen und aktiv zu befördern gilt. Bis heute hat sich die protestantische Theologie immer noch nicht ganz von der einflussreichen Umklammerung durch die für die Beantwortung der speziellen Herausforderung der politischen Ethik schlechterdings unbrauchbare dialektische Theologie lösen können, mit der Folge, dass das politische Tagesgeschehen leider viel zu oft noch mit dem genüsslichen Gestus der bevormundenden „Wächterstimme“ kritisiert und kommentiert wird, während man sich gleichzeitig, „von der Mitarbeit und dem Hineingehen in die gleiche Verantwortung peinlich fern“ (Hermann Ehlers) hält.
Von katholischer Seite aus werden traditionell weniger grundsätzlich-theologische Bedenken gegen das Projekt einer „C“ Partei artikuliert, da hier bereits das Naturrecht und eine längere Erfahrung mit dem politischen Parlamentarismus die nötige Legitimation schafft. Die Probleme der katholischen Kirche liegen dafür eher in der konkreten Politikbilanz: Wer, wie in der klassischen römisch-katholischen Naturrechtslehre, davon ausgeht, dass es objektiv-verbindliche überpositive Normen gibt, die mit dem Menschsein gegeben und ihm bereits naturaliter eingestiftet sind, der gerät spätestens dann in Legitimationszwänge, wenn er sich einer pluralistischen Gesellschaft gegenüberstehen sieht, die diese Annahmen so oder in diesem Umfang nicht mehr zu teilen bereit ist oder sie gar schlichtweg bestreitet.
4. Grundzüge einer Politik auf der Basis christlicher Verantwortung
Aus dem bisher Ausgeführten lassen sich die folgenden Grundzüge bzw. Leitlinien im Hinblick auf das Verständnis christlicher Verantwortung in der Politik ableiten:
- Bei der Gründung der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDU) im Jahre 1945 beriefen sich die Väter und Mütter der Union auf die „kulturgestaltenden sittlichen und geistigen Kräfte des Christentums“ als entscheidender „Kraftquelle“ zur Errichtung einer neuen „Ordnung in demokratischer Freiheit“ (1). Das „C“ im neuen Parteinamen, das zum ersten Mal in der deutschen Geschichte Katholiken und Protestanten in die gemeinsame politische Verantwortung rief, bildete dabei die Ermöglichungsgrundlage und entscheidende Klammer für die Gründung der Union, in der sich nun die unterschiedlichsten liberalen, konservativen und sozialen Kräfte auf eine tragende, gemeinsame Wertgrundlage verständigten.
- Das „C“ als gemeinsame Grundlage und Klammer der neuen Volkspartei drückte dabei von Anfang an den verantwortungsethischen Selbstanspruch engagierter und bekennender Christen (2) aus beiden Konfessionen aus und war niemals als Ausdruck eines christlichen Alleinvertretungs-, Monopol- oder gar Absolutheitsanspruches gemeint (3). Bewusste Christenmenschen aus beiden Konfessionen sollten vielmehr zur aktiven und lebendigen Mitarbeit in der neuen freiheitlich-parlamentarischen Demokratie ermuntert und gewonnen werden. Die Berufung auf das „C“ war nach der nationalsozialistischen Gräuel- und Terrorherrschaft sowie den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges vor allem eine entschieden gezielte und deutliche Absage an jegliche Form von politischem Totalitarismus und jede politische Ideologie.
- Das „C“ ist dementsprechend inklusiv-einladend (4) und nicht exklusiv-abgrenzend zu verstehen. Es will als Basis der „Union“ versöhnen und zusammenführen, statt zu spalten und zu polarisieren. Es hat eine grundlegend anti-ideologische und anti-totalitäre Ausrichtung. Es signalisiert einen dezidiert praktisch-verantwortungsethischen und real-lebensweltlichen Anspruch an den eigenen politischen Auftrag, keinen bloß theoretischen oder gar abstrakt-gesinnungsethischen.
- Das „C“ als Grundlage der ethischen Vergewisserung und Selbstprüfung der Politik darf nicht in einem doktrinal-dogmatischen Sinne missverstanden werden. Hermann Ehlers legte Wert auf die Feststellung: „Sowohl der Kirche und ihrer Verkündigung als auch dem Staat und seinem Auftrag wird ein Dienst getan, wenn politische und religiöse Argumentationen säuberlich geschieden werden und jeder der ihr befohlene Raum zugewiesen bleibt.“ (5) Es gibt keine direkte und unmittelbare Möglichkeit der Umsetzung von christlichen Glaubensinhalten in die Tagespolitik.
- Ein „christliches Programm“, eine „christliche Partei“ oder eine „christliche Politik“ als solche kann es nicht geben, da diese wiederum selbst unter Ideologieverdacht fielen (6). Das „C“ ist stattdessen mit der orientierenden Funktion eines Marsch-Kompasses (7) vergleichbar (Helmut Thielicke). Auch wenn über Grund und Ziel des Weges Einigkeit herrschen sollte, muss um die genaue Marschroute und die damit verbundenen besten Mittel zur Erreichung des Zieles immer wieder gerungen werden. Das „C“ ist unsere Grundlage und Motivation. Es lässt sich insofern nicht in direkter oder gar deduktiver Weise vom reinen Inhalt der Forderungen ableiten (das wäre die Ideologie eines „Gottesstaates“), sondern nur vom Grund her, welcher allein Jesus Christus ist (1. Kor 3,11).
- Das „C“ ist kein oberflächliches Feigenblatt, kein schmückendes Beiwerk, sondern ernsthafte und lebendige Grundorientierung. Bei der Berufung auf das „C“ geht es keineswegs um den unaufrichtigen Versuch einer politischen Absegnung der normativen Kraft des jeweils Faktischen. Es geht vielmehr um die bewusste Gestaltung und Veränderung des Faktischen aus der selbstverpflichtenden Orientierung am Normativen (des christlichen Glaubens) heraus. Insofern ist an Richard von Weizsäcker zu erinnern, der vom „C“ einmal sehr treffend als selbstverpflichtendem „Stachel im Fleisch“ der Partei gesprochen hat.
- Auch wenn die Rede vom „Christlichen Menschenbild“ eine gewisse theologische Unschärfe besitzt, hat es sich in der Geschichte der Union als inklusive und vor allem praktikable Formel für die Benennung der grundlegenden christlichen Werteausrichtung bewährt. Es ist legitim, mit dieser insbesondere auch für säkulare Zeitgenossen anschlussfähigen Formel zu arbeiten. Diese Formel bedarf allerdings notwendigerweise der intensiven und permanenten selbstkritischen Reflexion. Nur dadurch entgeht die Berufung auf das Christliche Menschenbild der Gefahr, zum beliebigen und programmatisch unterbestimmten politischen Feigenblatt für alle möglichen Ziele, Forderungen oder Inhalte, mithin also zu einer parteipolitisch-ideologischen Allerweltsfloskel, oder zu einem letztlich unverbindlichen Andachtsbildchen in Sonntagsreden zu degenerieren. Es muss immer wieder klar sein: Das ‚C‘ als Grundlage unserer Politik lässt sich nicht auf einen abstrakten, allgemeingültigen Begriff engführen. Es lässt sich nicht als eine ideologische Idee oder gar ein fixes Prinzip beschreiben, sondern bedeutet stets das gemeinsame deliberative Ringen von lebendigen Christenmenschen um die besten Lösungswege angesichts der Herausforderungen und Probleme einer jeweiligen Zeit für jedes Thema und für alle Menschen. Das recht verstandene ‚C‘ im Parteinamen verweist also direkt und unmittelbar auf den Auftrag der christlichen Verantwortung selbst. Christliche Verantwortung ist zuallererst Verantwortung von aktiven Christen und verdankt ihre ganze Lebenskraft und Glaubwürdigkeit dem persönlich verantworteten Glauben, Hoffen und Bekennen derer, die sich bei ihrem politischen Engagement am Evangelium Jesu Christi orientieren. Das authentische christliche Lebens- und Glaubenszeugnis ist ein entscheidender, integraler und unverzichtbarer Bestandteil der politischen Verantwortung und des Selbstverständnisses in der Union.
- Das „C“ ist dabei nicht als fromme Hybris aufzufassen. Das Christliche Menschenbild, dem sich die Unionsparteien verpflichtet wissen, weiß um die Endlichkeit und Vorläufigkeit sowie die Fehlerhaftigkeiten und Beschränkungen unserer menschlichen Natur. Das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 beschreibt deshalb zu Recht: „Jeder Mensch ist Irrtum und Schuld ausgesetzt. Darum sind auch der Planungs- und Gestaltungsfähigkeit der Politik Grenzen gesetzt. Diese Einsicht bewahrt uns vor ideologischen Heilslehren und einem totalitären Politikverständnis. Sie schafft Bereitschaft zur Versöhnung.“ (8) Das „C“ baut Brücken und Verbindungen zwischen den unterschiedlichsten Menschen. Es bezieht diese Kraft des Brückenbauens und der Versöhnung, die politisch und ethisch zu Kompromiss- und Konsenssuche anleiten, aus dem Geist der Liebe und Versöhnung Gottes, die in Jesus Christus erschienen ist. In seinem Buch "Die Christdemokratie in Westeuropa. Der schmale Grat zum Erfolg" (2008) beschreibt Timotheos Frey dieses ganz spezifische und gemeinsame Merkmal christdemokratischer Parteien in Westeuropa als christlich inspirierte „Mediationspolitik“. Typische Kennzeichen hierfür sind „eine große Koalitionsbereitschaft, eine generelle Kompromissfähigkeit und die konsequente Suche nach Regierungsbeteiligung“ (S. 32f.). Dieses christdemokratische Grundverständnis von Politik entspricht am ehesten dem biblischen Leitbild: „Suchet der Stadt Bestes“ (Jer 29,7).
- Das „C“ wirkt durch seinen realistischen Blick auf die Wesensnatur von uns Menschen befreiend und ermutigt, trotz unserer Begrenztheiten, Irrtums- und Fehleranfälligkeiten, zur immer wieder neu verantwortbaren und damit verantwortlichen Tat. Das spezifisch christliche Freiheitsverständnis ist stets als Freiheit in Bindung und Verantwortung zu verstehen. Es schützt die Würde und Eigenständigkeit jedes Einzelnen und trachtet in Form gelebter Nächstenliebe zugleich immer auch nach den notwendigen Gemeinschaftsperspektiven von Solidarität und Gerechtigkeit.
- Das „C“ ist der Schatz und das entscheidende Identitätsmerkmal der Union. CDU und CSU tun deshalb gut daran, dieses Profil auch in Zukunft zu pflegen. Dies bezeugen bis zum heutigen Tage auch zahlreiche Umfragen in der deutschen Bevölkerung: „56 Prozent finden das Attribut ‚christlich‘ sympathisch, 26 Prozent unsympathisch. Die CDU hätte demnach einen C-Bonus und keinesfalls einen C-Malus.“ (9) In dem Maße, wie es gelingt, dem „C“-Profil Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung zu verschaffen, steigt auch das Vertrauen, das Ansehen und der Zuspruch für die Union.
- Wiederholte Umfragen bestätigen immer wieder, dass das „C“ für Anhänger wie Mitglieder der CDU nach wie vor von großer Bedeutung ist. Alle Verlautbarungen, Strategien und Maßnahmen die das „C“ als entscheidendes Identitätsmerkmal der Union relativieren, marginalisieren oder gar zu verschweigen trachten, sind im Gegenzug als höchst problematisch, gefährlich und letztlich kontraproduktiv zu betrachten. Wer am „C“ im Parteinamen rührt, rührt auch am Identitätskern und der Existenzgrundlage der CDU selbst.
- Das „C“ lebt aber nicht zuletzt auch entscheidend davon, dass es auch in Zukunft eine hinreichende Zahl von bewussten und engagierten Christen in der Partei gibt, die die aus dem Glauben abgeleiteten christlichen Werteüberzeugungen und die mit dem Christlichen Menschenbild verbundenen Überzeugungen nicht nur verbal vertreten, sondern für diese auch selbst eintreten und sie auch vorleben (10). Die Mitglieder und Repräsentanten von CDU und CSU prägen schließlich selbst in herausragender und beispielhafter Weise das Bild, das sich die Menschen von der Union machen, mehr noch, als es Programme allein jemals tun könnten. In CDU und CSU versammeln sich deshalb überproportional viele Christen, mehr als in allen anderen Parteien. Das gilt übrigens auch für die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und die Vertreter der Union in den Länderparlamenten.
- Gleichwohl war und sind CDU und CSU immer auch offen für Menschen mit anderen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen, die die Werte der Union teilen und das Christliche Menschenbild als Grundlage politischen Handelns bejahen (11). Auch sie sind selbstverständlich willkommen, in der Union eine politische Heimat zu finden, und zur Mitarbeit eingeladen. Das „C“ bleibt die klar verbindliche Grundlage und Basis für alle Mitglieder in der Union.
Anmerkungen
(1) S. Berliner Gründungsaufruf der CDU von 1945, in: Peter Hintze (Hg.), Die CDU Parteiprogramme – Eine Dokumentation der Ziele und Aufgaben, Bouvier, Bonn 1995, S. 3.
(2) Hermann Ehlers stellte einmal sehr schön klar: „Wenn heute von einer christlichen Verantwortung in der Politik geredet wird – leider wird von ihr zuviel geredet und zu wenig getan! – dann bedeutet das doch folgendes: Der einzelne Politiker soll in die Verantwortung vor dem Worte Gottes gerufen werden, das ihm gebietet, auch sein politisches Handeln so einzurichten, daß er es dereinst vor dem Richterstuhl Gottes zu verantworten sich getrauen kann. Es muß aber ausgeschlossen sein, daß das christliche, religiöse oder scheinbar religiöse Reden zum Vorwand einer politischen Entscheidung wird.“ (Karl Dietrich Erdmann, Hg., Hermann Ehlers – Präsident des Deutschen Bundestages – Ausgewählte Reden, Aufsätze und Briefe 1950-1954, Boppard am Rhein 1991, S. 144.)
(3) Hierzu noch einmal Hermann Ehlers: „Die immer besonders grundsätzliche und gründliche evangelische Theologie hat sich dieser Frage mit großer Akkuratesse angenommen und jenseits und diesseits des Rheins wird sehr viel Mühe darauf verwandt, immer wieder zu beweisen und zu betonen, daß es weder eine christliche Politik noch eine christliche Partei geben könne. Es scheint mir in diesem ganzen Wirbel notwendig zu sein, einmal sehr schlicht darauf hinzuweisen, daß wir uns bei der Gründung der Partei im Jahre 1945 über diesen ganzen Wust von Ideen und theologischen Lehren nicht den geringsten Gedanken gemacht haben. Selbst die überzeugtesten katholischen Anhänger einer Naturrechtslehre haben das sicher nicht getan, sondern alle haben instinktiv eine Folgerung aus einem bis zum Sterben des Volkes ausgekosteten Erlebnis gezogen. Sie haben erfahren, daß ein Volk, das in seinem ganzen Leben, in seiner Kultur- und Sozialpolitik, in seiner Wirtschaftspolitik, in seiner Innen- und Außenpolitik darauf ausgerichtet wird, Gott zu vergessen, ihn von seinem Thron zu stoßen und auf diesen Thron einen lebendigen Menschen oder eine Ideologie zu setzen, untergeht. So brutal, aber auch so einfach war es. (…) Darum hat niemand in der CDU überhaupt nur daran denken können, jemand anderen das Christsein absprechen zu wollen, wenn er einer anderen Partei angehörte. (…) Ebensowenig konnte man daran denken zu meinen, es könnte einen christlichen Monopolanspruch geben.“ (A.a.O., S. 368/9)
(4) Die CDU ist wohlgemerkt als ein ursprünglich inter-konfessionelles und keineswegs als ein „über-konfessionelles“ politisches Bündnis zu betrachten. Dieses seit Jahrzehnten bewährte politische Bündnis realisiert sich deshalb auch bis heute in Form von unterschiedlichen konfessionellen Herkunftsidentitäten und -traditionen.
(5) Hermann Ehlers, a.a.O., S. 145.
(6) Ein typisches, klassisches Ideologoumenon stellt auch die immer wieder anzutreffen Floskel vom sogenannten „Christlichen Abendland“ dar, wobei das Attribut „christlich“ in manchen Kreisen – wie an der Bewegung PEGIDA erkennbar – dabei bereits immer öfter schon als obsolet erscheint.
(7) „Ich habe immer wieder versucht, das (…) an einem ganz simplen Bilde zu verdeutlichen, an einem Marschkompass. Dessen Zeiger weist auf das angepeilte Ziel. Nun ist es immer unmöglich, wenn wir diesen Zeiger – sagen wir mal – auf Liebe, Glaube, Hoffnung richten, aufgrund dieser Zeigeranzeige einfach geradeaus und unmittelbar auf das Ziel zuzugehen. Denn dann stoßen wir auf lauter Hindernisse, auf Rotlicht, auf Häuserzeilen, auf Ströme und Abgründe. Um die müssen wir dann herumgehen, aber ständig die Zielrichtung im Auge behalten. Es zeigt sich also, daß bei der Verwirklichung ethischer Ziele eine Beurteilung des Geländes nötig ist, daß man es jedenfalls in Rechnung ziehen muß.“ (Helmut Thielicke, Erwiderung auf die Verleihung des Hermann-Ehlers-Preises am 23. November 1984 in Hamburg, in: W. Bernhardt, Hg., Ein Christ in der Politik – Hermann Ehlers zum Gedenken 1904-1954, Neumünster 1985, S. 65.)
(8) Freiheit und Sicherheit – Grundsätze für Deutschland. Das Grundsatzprogramm. Beschlossen vom 21. Parteitag in Hannover, 3.-4. Dezember 2007, Ziffer 7., S. 8.
(9) Dr. Andreas Püttmann, Gesellschaft ohne Gott?-Kirchen und Gemeinwohlm in: Evangelische Verantwortung, Ausgabe 9+10 2016, S. 5.
(10) Vgl. Helmut Thielicke, Theologische Ethik II, 2, Tübingen 1958, S. 86: „Der christliche Glaube kann nur im Namen seiner Substanz, d.h. im Namen des von ihm geglaubten Herrn, und nicht im Namen der dabei „mit herauskommenden“ Ideen [zu ergänzen wäre hier: Werte oder Normen, Anm. d. EAK ] wirksam werden. Und er kann sich auch nur an die Substanz des Menschen, d.h. an sein Herz, wenden. Negativ ausgedrückt heißt das: Der Glaube kann nicht so wirksam werden, daß er primär christliche Sozialordnungen und die diese Ordnungen tragenden Werte verkündet und organisatorisch verwirklicht. Das würde nur heißen, das Pferd vom Schwanze her aufzuzäumen.“
(11) Vgl. Freiheit und Sicherheit – Grundsätze für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands. Beschlossen vom 21. Parteitag, Hannover, 3.-4. Dezember 2007, S. 7: „Die CDU ist für jeden offen, der Würde, Freiheit und Gleichheit aller Menschen anerkennt und die hieraus folgenden Grundüberzeugungen unserer Politik bejaht. Auf diesem Fundament baut unser gemeinsames Handeln in der CDU auf.“
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