Festansprache der Thüringer Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht

29.10.2001

Sehr geehrte Gäste,

herzlichen Glückwunsch von mir.

Vor zehn Jahren ist der EAK der CDU/CSU in Thüringen hier in Schmalkalden in diesem Saal gegründet worden. Frau Köhler und Pfarrer Hofmann haben uns in dem kleinen Gespräch eben in die damalige Zeit zurück versetzt. Das war sehr nützlich, denn das Jahr 1991 ist nun schon so lange her, dass einem nicht mehr alles gleich präsent ist.

Das hängt auch mit dieser unglaublichen Aufbruchsituation und Fülle der Begegnungen, Eindrücke und Empfindungen der ersten Jahre unmittelbar nach dem Ende des SED-Regimes und der Wiedervereinigung zusammen. Die besonders einprägsamen, manchmal wie im Rausch der Freiheit erlebten Monate zwischen dem Herbst 1989 und dem Jahr 1990 – Konrad Weiß hat von den „Flitterwochen der Demokratie“ gesprochen – waren vorbei.

Hinter dem Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, mit dem wir uns vereint hatten, wurden auch die Forderungen sichtbar, die der demokratische Verfassungsstaat, die soziale Marktwirtschaft und die pluralistische Gesellschaft an jeden Einzelnen stellten. Vieles war oder ging zu Ende, ohne dass schon wieder fester Boden unter den Füßen war. Das war nicht immer leicht zu verkraften.

Die Bewältigung der Aufgaben wurde von Politikern erwartet, die sich gerade selbst erst in ihre neuen Pflichten einarbeiteten. Christen, die in Gemeinde-Kirchenräten oder Synoden mitgearbeitet hatten, hatten wenigstens einen kleinen Vorsprung in der Handhabung demokratischer Regularien. Das war nicht ganz einfach. Erwartungen und Möglichkeiten standen in einem krassen Missverhältnis.

Von der vorübergehenden Katerstimmung wurden auch die Kirchen, die evangelischen zumal, erfasst: Nachdem sie als Nischen und Beschützer der aufbrechenden Bürgergesellschaft nicht mehr gebraucht wurden, fielen sie im Wesentlichen auf den Bestand ihrer Kerngemeinden von vor 1989 zurück. Zudem begann das unsägliche Stasi-Thema zusätzlich zu drücken.

Der Weg von einer marginalisierten und minorisierten, im Wesentlichen auf sich selbst bezogenen Gemeinschaft in einer Weltanschauungsdiktatur über die tragende Rolle in der friedlichen Revolution bis in die pluralistische Gesellschaft im Zeitraffertempo war einfach zu kurz, um schon verarbeitet zu sein. Und zuweilen haben wir ja bis heute damit zu tun.

Und dann das erbitterte Ringen im Pro und Kontra: ich sage es im Jargon der Skeptiker: um Thron und Altar!

Religionsunterricht, Militärseelsorge, Kirchensteuer, Staat-Kirche-Vertrag. Was sich in den alten Bundesländern im Verhältnis von Staat und Kirche über Jahrzehnte fest eingespielt hatte, wurde von den evangelischen Kirchen hierzulande erst einmal als fremd, wenn nicht gar bedrohlich empfunden. Dass der neue Staat nicht der alte war, war zwar bekannt, damit aber noch lange nicht tatsächlich erlebte und erprobte Wirklichkeit.

Auch in der CDU (sagen wir es ruhig einmal laut) erblickte man in den Kirchengemeinden nicht gerade den bevorzugten Ansprechpartner im politischen Raum. Die Probe auf die Läuterung, sozusagen auf den Wandel vom Blockpartei-Saulus zum demokratischen Paulus, war noch nicht gänzlich gemacht.

Kurz: Die Gründung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU passte genau in diese Zeit. Sie war notwendig, um die Stimmen, Ansichten und Erfahrungen evangelischer Christen in die Arbeit der CDU einzubringen und auf der anderen Seite aus der Partei heraus eine Gesprächsplattform für den evangelischen Raum zu haben.

Im Originaltext von damals hörte sich das dann so an:

Ich knüpfe an, an das, was mein politisches Denken und Wirken als Christ und Theologin in der Christlich Demokratischen Union in den vergangenen Monaten bestimmt hat und ich auch weiterhin für wichtig halte.

Es ist der Mensch mit all seinen Möglichkeiten und Grenzen im Spannungsfeld zwischen verlorenem Paradies alttestamentlicher Urgeschichte und der durch Jesus Christus neu verheißenen Teilhabe am Reich Gottes allein durch die Freiheit im Glauben und den Dienst tätiger Liebe untereinander.

Dieses Spannungsfeld nicht nur in theologischen Begriffen zu benennen, sondern es als steten Rahmen jeglichen gesellschaftlichen und politischen Handelns in Gemeinsamkeit der Erkenntnisse von Geistes- und Naturwissenschaften, der Wahrnehmungen von Künstlern, Vertretern von Wirtschaft und öffentlichem Leben begriffen und in philosophischen Kategorien des geistigen Fundaments, sowohl des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, als auch der Ordnung der sozialen Marktwirtschaft umgesetzt zu haben, ist eine der entscheidenden Säulen, auf denen sich Unionspolitik bis zum heutigen Tag auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgreich behaupten konnte.

Im Blick auf die geistesgeschichtliche Umbruchsituation im Osten Deutschlands, die auch für die westlichen Länder im geeinten Vaterland unabweisbare Herausforderungen mit sich bringen wird, scheint es mir nicht nur sinnvoll, sondern sogar notwendig, sich in einem Kreis interessierter und engagierter Fürstreiter der Union über die Möglichkeiten der geistesgeschichtlichen wie sozialethischen Begleitung der politischen Entwicklung in unserem Vaterland zu verständen.

In diesem Brief-Auszug vom 10. September 1990 scheint fast so etwas wie ein „Vor“-EAK auf!

(Anrede)

Das war die Situation. Sie liegt nun schon deutlich hinter uns. Manche Fragen und Aufgeregtheiten der damaligen Zeit - nicht zuletzt auch ein wenig das Pathos, in dem auch ich damals formulierte - haben sich gelegt bzw. erledigt. Heute freuen wir uns gemeinsam, dass zum Beispiel rund ein Viertel der Schüler evangelischen Religionsunterricht erhält, obgleich nur etwa die Hälfte davon getauft ist. Die Kirchen sind in den weiten Mantel des Staatskirchenrechts hinein gewachsen, und das Misstrauen ist weitgehend gewichen.

Doch haben wir Christen es in Staat und Gesellschaft mit diesen Veränderungen leichter? Auf der einen Seite ist es ein Segen, dass der ideologische Weltanschauungsstaat mit seinem Wahrheitsanspruch verschwunden ist und mit ihm der ganze Repressionsapparat mit Zensur und Schnüffelei und all den sonstigen Schikanen und Absurditäten.

Auf der anderen Seite stellen wir Christen auch jetzt eine Minderheit in diesem Land dar. Und unsere Gegenwart mit ihren nahezu unerschöpflichen Wahlmöglichkeiten, dem multimedialen Stimmengewirr und uferlosen Pluralismus macht es schwer, sich überhaupt Gehör zu verschaffen.

Der Unterschied zu damals lässt sich leicht beschreiben: Damals waren öffentliche Äußerungen der Kirchen unerwünscht und wenn die Machthaber es für nötig hielten, mit Repressionen belegt. Deshalb haben viele umso genauer hingehört. Heute können sich die Kirchen zu jedem Thema in jeder möglichen Form äußern – aber es hört kaum noch einer zu.

Die Gefahr, dass das Christentum über kurz oder lang und über eine durchaus freundliche, aber zu nichts verpflichtende Gleichgültigkeit zu einer rein privaten Angelegenheit verkümmern könnte, die außerhalb der Kirchenmauern keiner mehr versteht, ist auf diesem Hintergrund so abwegig nicht.

Dahin darf es aber nicht kommen, weil für einen Christen sein Glauben eben keine Privatangelegenheit ist, sondern sich damit ein Anspruch auf Weltgestaltung verbindet. Auch das weltliche Regiment, um mit Luther zu sprechen, ist ein Feld christlicher Betätigung, durch das äußerlich Frieden geschaffen und bösen Werken gewehrt werden soll. Die Freiheit von der Welt und die Freiheit für die Welt sind zwei Seiten ein und der selben Medaille.

(Anrede)

Es ist deshalb heute zweifelsohne ebenso wichtig wie früher, dass wir argumentative Brücken in eine Welt bauen, die unsere eigentlichen Fragen an das Leben zunächst nicht versteht, geschweige denn die Antworten. Genau da hat der EAK seine Aufgabe.

In einer Gesellschaft, die deutlich von Nützlichkeitserwägungen geprägt ist, ist zunächst die Frage, auf welche Weise sich Christen in die Gesellschaft einbringen können, unvermeidbar und muss beantwortet werden.

Ich will nur wenige Stichpunkte nennen:

*

die kulturprägende Kraft über Jahrhunderte bis heute ist aus unserer Gesellschaft überhaupt nicht wegzudenken.

*

das soziale Engagement, wenn es um die Schwächsten in unseren Gemeinden geht

*

der Beitrag zu Menschenrechten und grundlegenden Einsichten unseres modernen Verfassungsverständnisses und

*

die Vermittlung seelischer Stabilität durch den Glauben zum frohen und befreienden Dienst von Christen in dieser Gesellschaft.

 

Weitere wären zu nennen.

(Anrede)

Das alles kann ich jetzt leider nicht ausführen. Nur eins ist klar:

Die Funktion des Christlichen in der Gesellschaft kann sich nicht darin erschöpfen, Kulturdienstleister, Sozialstation, Traditionspfleger, Veranstaltungsagentur für weihevolle Augenblicke und Motivations-Seminare oder eine Art moralisches Eichamt zu sein. Mag sein, dass wir von alledem ein bisschen sind. Aber das ist nicht das entscheidende, und das provoziert auch keinen.

Die provozierende Kraft des „C“, die liegt in etwas anderem. Sie liegt im Wahrheitsanspruch des Christentums selbst begründet. Die Facetten, die ein außenstehender wahrnimmt, sind Ausdrucksformen dieser Wahrheit, die sich davon nicht einfach abtrennen lassen. Daraus folgt nicht etwa so etwas wie eine christliche Politik. Aber wir können uns im politischen Raum nur so betätigen, dass wir es vor unserem christlichen Gewissen vertreten können. Und auch die formale Seite ist dabei nicht unbedingt provozierend.

Martin Luther hat in seiner Schrift "Von weltlicher Obrigkeit" an den Herzog von Sachsen - der auch den Thüringer Landgrafentitel trug - 1523 das Ideal in der Sprache seiner Zeit beschrieben: Ein Fürst solle sich in vier Orte teilen.

„Aufs erste zu Gott mit rechtem Vertrauen und herzlichem Gebet. Aufs zweite gegen seine Untertanen mit Liebe und christlichem Dienst. Aufs dritte gegen seine Räte und Gewaltigen mit freier Vernunft und unbefangenem Verstand. Aufs vierte gegen die Übeltäter mit bescheidenem Ernst und Strenge.“

Ernster und im zweifelsfrei provozierend, ja sogar Anstoß erregend, kann es in einer ganzen Reihe von inhaltlichen Fragen werden. Auch da gilt selbstverständlich, dass die Regeln des politischen Betriebs im weltanschaulich neutralen Staat sich nicht christlichem Wahrheitsanspruch unterordnen müssen – der Staat ist nicht der verlängerte Arm der Kirche – aber das ändert nichts daran, dass der Anspruch, den wir als Christen in unserer Gesellschaft haben, uns auch abverlangt, dass wir unsere Position vertreten und nicht jeden Kompromiss mit tragen können.

Und das möchte ich nicht nur auf den staatlichen Raum beschränkt wissen. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereich ist genauso mit gemeint. Denn die Daseinsgestaltung umschließt ja bei weitem nicht nur das Verhältnis Staat und Kirche. Ich nenne einige Bereiche, in denen die christliche Ethik relevant ist und gewaltiges Konfliktpotential schlummert, ohne dies im Einzelnen hier ausführen zu können.

Der erste Bereich bezieht sich auf Fragen rund um den Lebensanfang und das Lebensende. Wir alle haben in Erinnerung, wie sehr uns die Abtreibungsfrage umgetrieben hat und weiter umtreibt. Die derzeit geltende Regelung bleibt eine brennende Wunde, denn Abtreibung ist nach christlichem Verständnis Mord. Es ist Christenpflicht, dies im Gedächtnis zu halten und dafür zu sorgen, dass in dieser Gesellschaft bis hin zu den handelnden Politikern überhaupt noch ein Empfinden für diese traurige und beschämende Wahrheit vorhanden ist. Und wir als Christen müssen nach allen Möglichkeiten greifen, die helfen, Leben zu bejahen und nicht es zu zerstören.

Die Folgethemen sind längst auf dem Tisch: Verbrauchende Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik. Die Wissenschaft hat ein Tor aufgestoßen, bisherige Grenzen werden fließend. Was heißt in diesem Zusammenhang Unverfügbarkeit des Lebens? So lange hier keine zweifelsfreie Klarheit hergestellt wird, kann das nur bedeuten: Der Forschungsstandort Deutschland, wirtschaftliche Interessen oder auch medizinischer Fortschritt auf Kosten ungeborenen Lebens sind keine hinreichend gewichtigen Güter, um diese Möglichkeiten zuzulassen.

Auch am Ende des Lebens sind Christen spätestens seit der Euthanasie-Gesetzgebung in den Niederlanden zu einem klaren Wort herausgefordert: Beachtliche Mehrheiten der Deutschen in West wie Ost - übrigens auch unter Christen - könnten sich vorstellen, die entsprechenden Gesetze auf Deutschland zu übertragen. Doch auch dadurch wird die Unverfügbarkeit des Lebens durchbrochen. Wo die Sterbebegleitung gefragt wäre, wird auf Lebensbeendigung gesetzt. Auch hier ernten wir heute die Früchte eines Zeitgeistes, der über Jahrzehnte dem Hedonismus und der „Spaßgesellschaft“ das Wort redete, ohne dass die Menschen einen einzigen Deut glücklicher und zufriedener geworden wären. Im Gegenteil.

(Anrede)

Die provozierende Kraft des „C“ erweist sich auch im ökonomischen Bereich: Auch wenn ein marktwirtschaftliches System ethisch wohlbegründet ist und in der christlichen Soziallehre wurzelt, hat es doch die Tendenz, die ihm innewohnenden Maßstäbe auszudehnen. Ökonomisierung der Lebensverhältnisse sagt man dazu. Einige Beispiele:

Flexibilität und Mobilität bestimmen das Wirtschaftsleben. Die Maschinen sollen möglichst rund um die Uhr laufen und die Sonntagsruhe noch vollends fallen. Dies alles ist zum Beispiel für Familien außerordentlich problematisch. „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“ hat die EKD erfolgreich dagegen gesetzt und gezeigt, dass auch dieser Trend nicht hinnehmbar ist.

Doch trifft der Vorwurf nicht nur „die“ Wirtschaft, die ja ohnehin nichts Abstraktes ist, sie trifft auch viele Menschen in ihrer Eigenschaft als Wesen, die der Karriere vieles unterordnen und sich in ihren Konsumgewohnheiten nicht stören lassen wollen. Und hier wird es richtig provozierend, denn der Tanz ums goldene Kalb ist keine Erfindung moderner Betriebswirtschaftslehre.

Die Durchökonomisierung vieler Lebensbereiche hängt eben auch damit zusammen, dass eine große Mehrheit ihre jeweiligen Prioritäten schlichtweg nach dem gleichen Schema des goldenen Kalbes setzt : „Ihr Gott ist ihr Bauch“ können wir in Philipper 3 Vers. 19 lesen. Der Rationalität wirtschaftlicher Argumente und der Verführungskraft ungezählter Konsum- und Freizeitmöglichkeiten kann sich kaum entziehen, wer auf die Frage: Wer bist du? mit dem antwortet, was er hat: an Gütern, Aufgaben, Verbindungen und Optionen.

Und sehen Sie sich mal die Werteskala von Jugendlichen, von Schülern schon in der Grundschule im Blick auf Erwachsene an:

* Wie viel verdienen sie?
* Sind sie so reich wie Beckenbauer?
* Fahren Sie einen Porsche?

Es ist in der pluralistischen Gesellschaft eine ganz unerhörte Provokation zu behaupten, dass Gott und nicht der Mensch das Maß aller Dinge ist und das vor allem dies aus den vielerlei Bindungen und Abhängigkeiten der Welt befreit. Die Frage, was der glaubt, der nicht glaubt, führt zu irritierenden Reaktionen.

Nachdenkliche Menschen kommen bei der Frage schon ins Grübeln, worauf sich die viel beschworene Selbstverwirklichung denn bezieht, wo Halt und Orientierung zu finden sind. Die sogenannten „Patchwork-Biografien“ – alle paar Jahre erfindet man sich neu, meist unter Zurücklassung des jeweiligen sogenannten "Lebensabschnittspartners" – sind Ausdruck eines Lebens ohne eigentlichen Mittelpunkt.

Nicht zuletzt provoziert eine vom christlichen Wahrheitsanspruch geprägte Lebenshaltung, auch all jene, die meinen, dass alles und jedes im Diskurs zur Disposition gestellt werden muss, dass prinzipiell alles zum Gegenstand einer gesellschaftlichen Übereinkunft gemacht werden kann.

(Anrede)

Einen letzten Bereich möchte ich vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11. September ansprechen. Ich bin davon überzeugt, dass unser System – demokratischer Verfassungsstaat, soziale Marktwirtschaft und pluralistische Gesellschaft – auch heute und in Zukunft sich nicht von der kulturprägenden Kraft des Christentums ablösen lassen.

Es war der ausgeprägte Dualismus zwischen Kaiser und Papst, zwischen dem weltlichen und dem kirchlichen Regiment, zwischen Staat und Kirche, der die Reformation und europäische Aufklärung überhaupt erst ermöglichte. Luther hat in der Zwei-Reiche-Lehre den Staat vom kirchlichen Vormachtanspruch befreit und das Reich Christi von weltlichen Rücksichten freigehalten.

Dadurch, dass jedem Mensch als Geschöpf Gottes die gleiche Würde zusteht und dieser Dualismus Entwicklungsräume geschaffen hat, haben sich Aufklärung, Menschenrechtsdenken, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und moderner Staat erst so bilden können, wie wir sie kennen.

Richtig ist auch: Unser Denken hat sich von diesen Wurzeln gelöst. Wir finden heute andere Begründungen. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt: Wo das Christentum verschwindet, werden Religionen Platz greifen, die das Verhältnis von Religion und Politik viel enger definieren – wie etwa der Islam. Dann ist es aus mit dem weltanschaulich neutralen Staat. Oder die Politik wird sich religiös aufladen, wie wir es im letzten Jahrhundert kennengelernt haben. Denn wohin sollen sich die Erwartungen richten, die wir dem religiösen Lebensbezirk zuordnen?

Und schon in kurzer Frist wird sich vermutlich ein Problem einstellen, auf das zu Recht zunehmend hingewiesen wird. Ich will es mit Günter Rohrmoser formulieren:

„Wie wollen wir in den Weltdialog der Religionen und ihrer Kulturen eintreten, wenn wir selbst nichts einzubringen haben?“

Hier geht es, um es konkret zu sagen, um die Integrationskraft unserer Gesellschaft im Zusammenhang mit der Zuwanderung, die wir bereits jetzt erleben und die wir im Zuge unserer eigenen dramatisch alternden und schrumpfenden Gesellschaft aktiv betreiben müssen.

Rohrmoser macht das mit einem einprägsamen Beispiel deutlich. Ich zitiere noch einmal:

„Was soll denn ein jugendlicher Deutscher einem jungen Türken noch mitzuteilen haben, wenn er kein Vaterland, keinen Glauben, keine sittlichen Überzeugungen hat, während der prachtvolle junge Türke dies alles selbstbewusst vertritt und nicht im Traum daran denkt, es im Diskurs zur Disposition zu stellen? Wir entziehen mit der Zerstörung unserer kulturellen Identität paradoxerweise sogar einer möglichen multikulturellen Gesellschaft die Grundlagen.“ Soweit Rohrmoser.

(Anrede)

Ich meine es ist hinreichend deutlich geworden, wie provozierend die Kraft des „C“ für Staat und Gesellschaft tatsächlich ist. Das Christentum gefährdet weder die Unabhängigkeit des Staates noch überschreitet es die Kompetenz des eigenen geistlichen Bereiches, wenn es seinen Wahrheitsanspruch formuliert. Eher im Gegenteil. Aber es darf und muss stören, provozieren, damit es wahrgenommen wird und zum Nachdenken anregt. Salz der Erde wird man nicht dadurch, dass man – bildlich gesprochen – im Salzstreuer verharrt. Es muss schon überall zu schmecken sein.

Der EAK hat wie eh und je die Aufgabe als Vermittler aus dem Raum der Kirche in die Politik und von der Politik in die Kirche hinein zu wirken. Anlässe und Themen gibt es, wie wir gesehen haben, in Fülle. Deshalb wünsche ich Ihnen und uns weiterhin viel Erfolg bei der Arbeit an einer wichtigen Schnittstelle zwischen – wie Martin Luther sagt – geistlichem und weltlichem Regiment.

Und für heute erstmal eine schöne Geburtstagsfeier Ihnen und uns allen.

Vielen Dank

Berlin, den 29.10.2001