Resolution: "Evangelische Identität in einer pluralen Gesellschaft"

25.06.2004

Unsere moderne, freiheitliche, demokratische und plurale Gesellschaft benötigt allgemeinverbindliche Werte. Die Vielfalt an gesamtgesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten, an religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen und an unterschiedlichen Binnenkulturen in unserem Land ist zu bejahen. Sie ist jedoch langfristig ohne den festen und verlässlichen Bezugspunkt grundsätzlich anerkannter ethischer Normen und Standards in ihrem Bestand gefährdet.

Deutschland steht in den kommenden Jahren vor entscheidenden Weichenstellungen für die Zukunft. Die gewaltigen ökonomischen und demographischen Herausforderungen sind nur dann zu bewältigen, wenn sie von einem neu gestärkten Bewusstsein eines allgemein verpflichtenden ethischen Grundkonsenses getragen werden. Den Rahmen dafür bietet bereits das Grundgesetz, doch gerade derverfassungsmäßig garantierte Rechtsbereich lebt in entscheidender Weise davon, dass der Geist, der ihn geschaffen hat, weiterhin lebendig bleibt. Gegenwärtig ist die werteverbindende und werteverbindliche Basis unserer Gesellschaft aus unterschiedlichsten Gründen gefährdet.

Insbesondere die jahrzehntelangen Fehlentwicklungen in der Ausländer-, Einwanderungs- und Integrationspolitik belegen in erschreckender Weise, dass mit dem immer wieder beschworenen, missverständlichen und irrigen Begriff einer "multikulturellen Gesellschaft" kein Staat mehr zu machen ist. Die Bedrohung unseres Gemeinwesens durch kulturelle und religiöse Nischenbildung sowie durch die Herausbildung von Parallelgesellschaften hat bedenkliche Ausmaße angenommen und ist nicht länger hinnehmbar. Die seit Jahren zu beobachtende aggressive und einseitige Einforderung und Durchsetzung immer speziellerer so genannter "Minderheitenrechte" von Seiten ganz bestimmter Interessengruppen untergräbt zudem nicht nur die Aussicht auf einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, sondern trägt zur Erosion unserer gesamten sozialen und politischen Ordnung bei.

Der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU (EAK) fordert deshalb ein Ende der Wertebeliebigkeit in unserem Land und ein neues Nachdenken sowohl über die wesentlichen kulturellen, ethischen und religiösen Grundlagen, die Deutschland im Kontext Europas wesentlich geprägt haben, als auch darüber, wie diese zukünftig ihre Orientierungskraft beibehalten können. Hierfür ist insbesondere das durch die christlich-abendländischen Traditionen sowie die Aufklärung vermittelte Kultur- und Geisteserbe relevant, auf dem unser freiheitlicher Rechtsstaat gründet. Dabei kann es sich keinesfalls um eine rückwärtsgewandte oder gar verengte nationale Binnen-, sondern nur um eine europäische Gesamtperspektive handeln, innerhalb derer Deutschland gleichwohl zu einem neuen eigenständigen Identitätsbewusstsein kommen muss.

Werte und Normen sind immer nur dann lebendig, wenn sie sich in den konkreten gesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten ausdrücken und widerspiegeln. Daher muss ein künftig neu zu formulierender und für alle gültiger Wertekonsens als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Zielperspektive verstanden werden. Den Kirchen und Religionsgemeinschaften kommt hier als Impulsgeber und Moderatoren eine besondere Aufgabe zu. Grundlage und Richtschnur für den gesellschaftlichen Wertedialog der Zukunft muss in jedem Fall der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes bilden, der seinem Geiste nach nur vor dem Hintergrund unserer christlichen und aufklärerischen Tradition zu verstehen ist.

Gerade die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 GG) gilt es vor dem Hintergrund jüngster bioethischer, -technologischer und -medizinischer Fragestellungen sowohl am Anfang als auch am Ende des Lebens dauerhaft zu bewahren. Die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG) muss im Rahmen der jüngsten Herausforderungen durch radikale religiöse wie weltanschauliche Fundamentalismen im Hinblick auf die Grundlagen und Ziele unserer Verfassung neu durchdacht und bestimmt werden. Den Tendenzen und Auswüchsen des Islamismus in unserem Land beispielsweise muss wirksam und entschieden entgegengetreten werden. Der religiöse und weltanschauliche Fundamentalismus ist kein Dialogpartner für den Wertekonsens der Zukunft, sondern seine größte Gefährdung.

Eine vernünftige und verantwortliche Integrationspolitik muss vor allem diejenigen verpflichten, die dauerhaft bei uns leben wollen. Schließlich gilt es die Werte von Ehe und Familie, vor allem angesichts der bedrückenden demographischen Entwicklung in Deutschland, endlich tatkräftig und glaubwürdig zu befördern. Hier ist nicht zuletzt auch die Politik in entscheidender Weise gefordert.

An dem neuen gesamtgesellschaftlichen Wertekonsens mitzuwirken, sind wir alle - ob als Einzelner oder als Kirche, als Religionsgemeinschaft, als gesellschaftliche oder als politische Gruppierung - in der Verantwortung für unser Land aufgerufen.

Berlin, den 25.06.2004